„Ich bin nicht verrückt, ich bin bloß müde“, erklärte ich, „ich will kein Antidepressivum, sondern ein Schlafmittel.“
„Aber das bekämpft nur die Symptome“, sagte die Psychiaterin, „denken Sie mal ehrlich darüber nach, warum Sie nachts wach liegen.“
„Weil ich immerzu an meinen Exfreund denke und weil ich mich davon abhalten muss, ihn anzurufen und ihm zu sagen, dass ich ihn liebe. Und weil ich Angst habe, dass er durch mein Fenster einsteigt und mich erwürgt“, ergänzte ich.
„Ist das einer realen Bedrohung geschuldet, oder leiden Sie unter Verfolgungswahn?“
Sie sind die Psychiaterin!, hätte ich gerne erwidert, aber weil ich mein Rezept noch nicht hatte, riss ich mich zusammen. Außerdem hielt ich die Frage für selten dämlich. Welcher Paranoide würde schon zugeben, dass er sich seine Geschichte nur einbildet?
„Wollen Sie mal hören?“
Ich hielt Frau Dr. Körbchen mein Handy ans Ohr und ließ Svens letzte Nachricht ablaufen. Er keuchte seine unsterbliche Liebe aufs Band, beschimpfte mich als verlogene Schlampe und schloss mit der Ankündigung: „…wenn du nicht zurückkommst, muss ich dich töten!“
„Real“, notierte sie knapp. „Dieser Mann bedroht also Ihr Leben, aber Sie fühlen sich zu ihm hingezogen? Ist das nicht inkonsequent?“
„Schon“, gab ich zu. Aber man hört doch nicht von einem Tag auf den anderen auf, seinen Freund zu lieben, bloß weil der sich als eifersüchtiger Irrer entpuppt? Wir waren schließlich beinahe verlobt gewesen.
„Haben Sie ihn bei der Polizei angezeigt?“
„Nein.“
„Warum denn nicht?“
„Ich glaube nicht, dass er mir wirklich etwas antun würde. Er ist nur wütend, weil ich nicht ans Telefon gehe. Aber ich halte seine Eifersucht einfach nicht mehr aus!“
„Und jetzt können Sie nicht mehr schlafen und nicht mehr essen, sind nervös und brechen ständig in Tränen aus?“, fasste sie zusammen.
„So ungefähr“, murmelte ich.
„Was halten Sie davon, sich an einen schönen ruhigen Ort zu begeben, wo man Ihnen helfen kann?“, fragte Frau Dr. Körbchen freundlich.
„Ich gehe nicht in die Psychiatrie!“, sagte ich heftig.
Wenn einer in die Psychiatrie gehörte, dann doch wohl der Stalker und nicht die Gestalkte!
„Niemand spricht von der Psychiatrie“, korrigierte sie mich, „ich spreche von einer netten, ruhigen psychosomatischen Klinik in der Fränkischen Schweiz. Gutes Essen, lange Spaziergänge und ein paar Gespräche über Ihre Depression.“
„Ich bin nicht depressiv, ich hab´ einfach nur Liebeskummer“, sagte ich und heulte los, zum dritten Mal an diesem Vormittag.
„Dort wären Sie vollkommen geschützt. Sie hätten fachkundige Unterstützung bei diesem schwierigen Ablösungsprozess, und absolut niemand würde Ihren Aufenthaltsort erfahren.“
„Auch meine Eltern nicht?“
„Absolut niemand.“
Meine Eltern fielen mir zwar nicht absichtlich in den Rücken, aber sie konnten einfach nicht lügen. Seit dem ersten Trennungsversuch bewohnte ich wieder mein altes Kinderzimmer und Sven suchte mich täglich auf. Mama wurde immer knallrot und murmelte nur, Mira sei nicht da, und Papa bezeichnete Sven immer noch als „lieben Kerli, der momentan halt a bisserl durcheinander ist“. Dass der liebe Kerli seiner Tochter mit Mord gedroht hatte, fand er dann schon „ungut“, aber er glaubte Sven seine Reue und wollte einer allerletzten Aussprache kein einziges Mal im Wege stehen. Deshalb ließ er ihn immer wieder in mein Zimmer, wo Sven so lange heulte, schmeichelte, bettelte und diskutierte, bis ich mit ihm nach Hause ging und wir uns zum hunderttausendsten Mal versöhnten. Ich liebte ihn ja, und er hatte eben solche Angst, weil seine Exfreundin ihn laufend betrogen hatte, das musste ich doch verstehen. Er drohte mir ja auch nur aus Hilflosigkeit und ab jetzt würde alles anders werden.
Das hielt dann ein oder zwei Tage an, bis er sich wieder aufregte, weil ich einen Rock anziehen oder alleine in die Stadt gehen wollte, woraufhin ich wieder zu meinen Eltern flüchtete. Als er mir aber schließlich verbot, zum Erntedankfest in die Kirche zu gehen, weil ich ihn mit dem Pfarrer betrügen könnte, verlor ich das letzte Restchen Geduld. Ich schickte ihm all seine Sachen zurück und schrieb, dass ich ihn nie wieder sehen wollte.