Blöde Bescherung 2

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Blöde Bescherung 2Linda liebte Weihnachten. Schon als Kind hatte sie sich das ganze Jahr über darauf gefreut. Sie konnte die nasskalte Herbstzeit, die nur notdürftig durch einen kläglichen Laternenumzug aufgeheitert wurde, nur durch den Gedanken an den baldigen Advent überstehen. Ende November holte Mama die geheimnisvollen Kisten aus dem Keller, die sie mit einem weichen Lappen sorgfältig vom Staub der vergangenen Monate befreite. Jetzt durften die kleinen Mädchen vorsichtig die Deckel der vier dunkelblauen Kisten anheben.

Was kam hier nicht alles zum Vorschein! Kleine Engelchen, die bunte Päckchen auf einen winzigen Schlitten hievten, winzige Weihnachtsmänner mit ernsten Gesichtern, und natürlich der geschnitzte Schwippbogen fürs Wohnzimmerfenster. Während Linda die Holzfigürchen mit silbernen Fädchen an der Tiffanylampe befestigte, strich die kleine Susanna andächtig über die großen, rotglänzenden Kästen, die erst nach dem ersten Advent geöffnet werden durften. Hier verbargen sich Onkel Richards Krippe und der gesamte Christbaumschmuck.

Am meisten freuten sich die Kinder aber auf die schmale goldene Schachtel, die ihre Schätze erst am Heiligen Abend freigab. Der Rauschgoldengel blinzelte Jahr für Jahr verwundert durch die kräuselige Holzwolle, wenn Mama ihn aus seinem Bett befreite, das er nur mit dem hölzernen Jesuskindchen teilte. Die Kinder stritten beinahe darum, wer das Baby in die Krippe legen und damit die Weihnachtsdekoration komplettieren durfte.

Nach dem Kirchgang warteten die Mädchen mit glühenden Gesichtern vor der Weihnachtstür, bis das Glöckchen klingelte und sie endlich das Zimmer stürmen durften. Nur mit Mühe konnte Papa sie dazu bewegen, noch ihr Gedicht aufzusagen, bevor sie sich auf die Geschenke stürzten. Sicherlich fielen die Gaben damals bescheidener aus, aber sie wurden mit Liebe angefertigt und kamen von Herzen.

„Das war die Weihnachtsfee!“, erklärten die Eltern lachend und erzählten den staunenden Kindern die Sage von dem Engel, der zu Weihnachten Eintracht und Freude in alle Familien bringt.

Wie lange das her war! Als junges Mädchen hatte Linda vorgehabt, ihren eigenen Kindern später den Zauber der Weihnacht nahe zu bringen, aber dann hatte sie Karl kennen gelernt, den als Zyniker zu bezeichnen eine nette Untertreibung war. Linda hatte ihn trotzdem geheiratet, und normalerweise bereute sie diese Entscheidung nicht übermäßig. Nur einmal im Jahr griff sie zu ihrem Adressbüchlein und starrte mehrere Minuten lang auf die Nummer ihres Anwalts, bevor sie dann doch nur die Liste für die Weihnachtspost erstellte. Sie war versucht, ihn anzurufen und um eine schnelle Scheidung zu bitten, jedes einzelne Jahr im Advent, aber nur einmal hatte sie es wirklich getan.

Karl hatte kurz nach Angelas Geburt vorgeschlagen, dieses Jahr Frauen- und Männerweihnacht zu trennen und mit Tobias und seinen unsäglichen Kumpels zum Skifahren zu gehen.

„Du kannst deine Mutter einladen und diese Frau mit dem Vogel, und dann könnt ihr eure Weihnachtslieder hören und niemand kommt sich in die Quere!“, hatte er gesagt und sie erwartungsvoll angeschaut.

„Wir können in Zukunft auch eine Frauen- und eine Männerfamilie haben, wobei deine Familie aus dir und deinem Egoismus bestehen wird, denn Tobias bleibt bei uns!“, hatte Linda ihn angeschrieen, bevor sie nach oben rannte, um zu heulen.

Aber dieses Jahr konnte sie nicht rennen, dieses Jahr konnte sie überhaupt nichts tun, denn sie hatte sich das linke Bein gebrochen und lag seit zwei Wochen in Gips.

Sie wusste, dass alles schief gehen würde, schiefer als je zuvor; das einzig Beruhigende war, dass es nicht im Geringsten ihre Schuld sein würde, zum allerersten Mal. Denn obwohl Karl ihre Dekoration als kitschig verspottete, war er beleidigt, wenn die Lichterketten im Vorgarten schief hingen, und natürlich legte er den größten Wert auf ein perfektes Weihnachtsessen, obgleich er seine Frau jedes Jahr beschwor, sich doch nicht so einen Stress zu machen und „einfach mal locker“ zu bleiben.

Genau das würde sie heute tun, sie würde sich locker in ihr Bett legen und fernsehen und im Internet surfen und sich aus allem heraushalten. Sollten sie sehen, wo sie blieben!

Es war sechzehn Uhr am 24. Dezember und das Haus war ein Chaos! Nachdem Linda Karl heute Morgen, das einzige Mal in der ganzen verdammten Adventszeit, zum Einkaufen in die Stadt geschickt hatte und er mit praktisch nichts von ihrer Liste zurückgekommen war, bereute sie sogar, bereits die Gans in den Ofen geschoben zu haben.

„Dann gibt es halt nichts Süßes“, meinte sie knapp, „ es ist ja nur Weihnachten. Und der Baum sieht ungeschmückt auch viel natürlicher aus.“

Sie erwog kurz, den dreiundzwanzigjährigen Medizinstudenten anzurufen, den sie aus dem „Wartezimmer“-Chat kannte, in dem sie sich zu den Themen „Geh- und Liegegips“, „Duschen mit Gipsbein“ und „Sex trotz Gips?“ informiert hatte. thomas-friendly23 hatte ihr angeboten, sie nach Rothenburg ins Weihnachtsmuseum mitzunehmen, nachdem er sie im Forum über ein erstaunlich ähnliches Interessensprofil gefunden hatte. Sie hatte, maßlos verblüfft und geschmeichelt, mit ihrer Familie und ihrem Alter herausgerückt, woraufhin der Junge kokett geschrieben hatte, dass ihn keiner dieser Umstände störe und ihre letzte Frage durchaus zu bejahen sei.

„Halt!“, ermahnte sie ihren Sohn, „Frau Eckert kommt um fünf. Bis dahin ist die Russenflagge verschwunden.“ Tobias legte in letzter Zeit ein erfreuliches Interesse für andere Länder und Gebräuche an den Tag, trotzdem wollte Linda seinen Beitrag zur Verzierung des Hauses vorsichtshalber entfernen, da die alte Dame aufgrund des Krieges Ressentiments gegen Russland hegte.

„Ich leg´ mich hin“, murmelte sie verlegen und musste plötzlich grinsen, als sie die Treppe hinaufhumpelte.

Karl würde sich mit dem Baum, den Klößen und seinem schlechten Gewissen herumplagen, während sie die Tür absperren und chatten würde.

„why not … :)?“, stand auf dem Bildschirm ihres Laptops, als Linda sich zwei Stunden später streckte und auf die Uhr sah.

Jetzt wollte der verrückte Kerl sie allen Ernstes überreden, am Weihnachtsabend mit ihr durchzubrennen! Das war nicht ihre Absicht gewesen, als sie sich auf die Gespräche mit dem freundlichen Studenten eingelassen hatte. Sie wollte sich doch nur ein wenig ablenken. Sicher, die Komplimente taten gut, das gestand sie sich schon ein. Karl ließ sich so selten herab, mal etwas Nettes zu ihr zu sagen, dass sie in dieser Hinsicht etwas bedürftig war.

„Schluss jetzt! “, ermahnte sie sich selbst. Sie war schließlich keine dreiundzwanzig mehr. Wahrscheinlich mühte Karl sich bereits mit Frau Eckert und Smalltalk ab, während er Miriam und ihren Freund wütend aus dem Augenwinkel beobachtete.

„weil ich die blöden Kinder liebe …!“, tippte sie in die Tastatur und klappte das Notebook kurzentschlossen zu. Dann angelte sie nach ihrer Krücke und kämpfte sich die Treppe hinab. Eine Frau war doch schließlich trotz allem in erster Linie Mutter!

Karls Laune war noch schlechter als erwartet. Er kritisierte an Angelas Ausdrucksweise herum und verbot Miriam sogar, vom Punsch zu trinken.

Zum Festessen, das wie erwartet ziemlich scheußlich schmeckte, war schließlich auch Lindas Mutter gekommen. Linda genoss es, dass alle offensichtlich in den Tellern herumstocherten, ohne dass irgendjemand ihr den geringsten Vorwurf machen konnte. Sie ließ die Unterhaltung an sich vorbeiplätschern und überlegte, welches Buch sie zuerst lesen würde, wenn die anderen die Küche aufräumen würden.

„Ich denk ned, dass man des mit die Drogen so verharmlosen sollte“, murmelte Mama schüchtern und wagte es nicht, Miris Freund ins Gesicht zu sehen, der offenbar anderer Meinung war.

Vermutlich wirkten Lindas Schmerzmittel heute besonders gut, jedenfalls fühlte sie sich nach dem Essen wie auf Wolken und stellte verwundert fest, dass auch die anderen plötzlich bester Laune waren.

Trotzdem war sie auf die Bescherung nicht besonders scharf, da sie weder Tobias´ Enttäuschung noch Angelas Heuchelei besonders gut ertrug. Seltsamerweise hatte Karl dieses Mal bei der Auswahl der Geschenke geradezu telepathische Fähigkeiten bewiesen.

Als Linda ein seidenes Nachthemd in Händen hielt, streifte sie ein Anflug schlechten Gewissens. „Komm mal mit!“, raunte sie ihrem Mann zu, und obwohl er sie ein bisschen stützte, flogen sie die Treppe hinauf.

„Die Weihnachtsfee, das war die Weihnachtsfee!“, sang Linda, während Karl Dinge tat, die er seit einer Ewigkeit nicht mehr getan hatte.

„Die Weihnachtsfee hat uns alle verhext!“, trällerte sie auch noch, als sie Hand in Hand ins Wohnzimmer zurückkamen.

Miriams Freund diskutierte mit Mama die Vorzüge der veganen Ernährung, während Frau Eckert mit feuchten Augen den kleinen Lord im Fernsehen verfolgte. Die Kleinen unterhielten sich friedlich, und auf dem Tisch lag ein toter grüner Vogel, über dessen Existenz Linda nicht weiter nachdenken wollte. Es fiel ihr überhaupt schwer, über irgendetwas nachzudenken, aber es fühlte sich wunderbar an.

Bevor sie auf dem Sofa einschlief, schoss ihr flüchtig die Frage durch den Kopf, ob thomas-friendly23 wohl bereit wäre, ihr nächstes Jahr rechtzeitig zum Advent das andere Bein einzugipsen.

 

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