Miriam war nervös. Weihnachten stand vor der Tür und sie wusste, dass es ein Desaster geben würde. Mama war krank, Omas Krippe unauffindbar, und Papa hatte außer zynischen Bemerkungen nichts vorbereitet.
Seit Jahren sehnte sie sich nach der Anerkennung ihres Vaters, doch bisher hatte sie ihn konsequent enttäuscht.
Karl war keiner von den Vätern, die Hausaufgaben kontrollierten oder bei schlechten Noten schimpften. Er verlangte von seiner ältesten Tochter, dass sie über seine Witze lachte, ihm auf intelligente Weise widersprach und rebellierte.
Miriam fand Karls Bemerkungen aber nicht lustig, wollte nicht rebellieren und war absolut nicht schlagfertig. Letztes Jahr hatte sie sich in einen schüchternen Medizinstudenten verliebt, der in Tobias´ Hort den Impfstatus der Kinder überprüft hatte, aber der Gedanke an die vernichtenden Blicke ihres Vaters hatte all ihre Hoffnungen im Keim erstickt.
Jetzt hatte sie endlich einen würdigen Kandidaten gefunden und sich dazu überwunden, sich von ihm küssen zu lassen, doch Karl hatte so enttäuschend lauwarm auf Jenss ersten Besuch reagiert, dass sie gezwungen war, die unbehagliche Liaison fortzuführen. Zum Glück forderte Jens keine körperlichen Liebesbeweise, sondern war damit zufrieden, wenn sie vorgab, ihm bei seinem Politikgelaber zuzuhören.
Der Teufel musste sie geritten haben, als sie ihn für den Heiligen Abend eingeladen hatte, aber zumindest würde heute etwas passieren. Entweder würde Karl explodieren, weil der Linkssympathisant sein Bild von einem konservativen Familienabend zerstörte, oder er müsste Jens das Du anbieten und seiner Tochter zu ihrer außergewöhnlichen Wahl gratulieren. In jedem Fall war Karl gezwungen, Miriam wahrzunehmen, mit ihr zu reden und sie wie ein ernsthaftes Gegenüber zu betrachten, und das war mehr an Aufmerksamkeit, als sie seit Jahren von ihm bekommen hatte.