Halloween kommt krass: Saures oder sehr Saures

marawinter Familie, Literaturbetrieb, Mara, Satire, Sonstiges

Im Prinzip hatte Evy ihn von Anfang an belogen, was die Sache mit den Kindern betraf. Anfangs hatte er ihr wirklich geglaubt, wenn sie lächelnd etwas behauptete wie »Warte nur ab, Liebling, wenn Anna erstmal laufen kann, dann wird alles leichter« oder »Wenn sie erstmal zu zweit sind, werden sie sich miteinander beschäftigen«. Doch es wurde nicht besser mit der Zeit, sie hörten weder damit auf, seine Nachtruhe zu stören, noch seine Unterlagen im Wohnzimmer durcheinanderzubringen oder seine Anzüge mit klebrigen Fingern zu beschmieren. Genauso wenig, wie sich die Besuche der vogelgesichtigen Großmutter verringerten, »wenn sie erstmal aus dem Gröbsten heraus sind«. Je größer die Kinder wurden, desto mehr seiner Sachen borgten sie sich aus, ohne sie je zurückzugeben, und desto größere Unruhe brachten sie in sein schönes ruhiges Haus, mit ihren schmutzigen Schuhen, ihrem maßlosen Appetit und ihren Freunden, die im Wohnzimmer herumlungerten, das letzte Stück Kuchen aufaßen und ihn feindselig musterten, wenn er es wagte, sein eigenes Haus zu betreten.

Auch das eheliche Schlafgemach hatten sie vollständig okkupiert und hingen an Evy wie klebrige Affen, die sich auch mit Gewalt nicht abschütteln ließen. »Es sind doch nur ein paar Wochen, Monate, Jahre …« argumentierte seine Frau halbherzig, während sie die schlafenden Monster streichelte, die sich grunzend noch enger an sie heranschmiegten.

Kein Wunder, dass Martin sich irgendwann damit behelfen musste, auswärts zu essen und schließlich auch seine männlichen Bedürfnisse anderswo zu stillen; vorzugsweise beides hintereinander in der hübschen Wohnung seiner neuen Forschungsassistentin, die gleich um die Ecke der Uni lag. Dennoch hielt er dieses Arrangement so lange wie möglich vor seiner Frau geheim. Evy verhielt sich sowieso schlagartig dermaßen biestig, dass er sie unbewusst verdächtigte, alles zu wissen und stillschweigend zu tolerieren. Das war wohl der Preis dafür, dass sie ihn zu der Familiensache überredet hatte, dachte er zuweilen grimmig. Daher war er völlig verblüfft darüber, wie entsetzt sie reagierte, als sie ihn während der Arbeitszeit mit Sonja in der Saunaecke des städtischen Hallenbads entdeckte.

»Aber Evy, du wusstest doch …« Es stellte sich heraus, dass sie überhaupt nichts gewusst hatte; im Gegenteil, sie bezichtigte ihn sogar der Unehrlichkeit. Dabei hatte er nur aus Rücksicht auf ihre ständigen Launen wie Schwangerschaftsübelkeit, Schlafmangel oder Hormonstörungen geschwiegen; wie gerne wäre auch er einmal mit dem Grund seiner seltenen guten Laune daheim herausgeplatzt, so wie auch die Kinder ungefragt jede Stimmungsänderung herausposaunten. Es war ein schönes Gefühl gewesen, endlich mal wieder unbeschwert und beinahe verliebt zu sein, und er hatte sein Strahlen und Pfeifen mühsam unterdrückt und versucht, sein mürrisches Alltagsgesicht aufzusetzen. Und jetzt warf sie ihm eben das vor.

»Du meinst, ich hätte dir sofort von Sonja erzählen sollen?«, fragte er missmutig und versuchte, seine Genitalien mit einem der winzigen Handtücher zu bedecken, die man dort bekommen konnte. Nötig war das genaugenommen nicht, da sowohl Evy als auch Sonja mit seinem herabhängenden Skrotum bestens vertraut waren, aber es fühlte sich irgendwie falsch an, nackt zu sein, während er angegriffen wurde.

»Nein, du hättest mich einfach nicht betrügen sollen!«, keifte Evy und hüllte sich in ihren jadegrünen Bademantel mit der aufwändigen Goldstickerei, der ihre Blöße komplett bedeckte. Sie sah überhaupt ungewohnt gut aus, so gar nicht nach Dienstag Nachmittag, wie sie dort mit ihrem aufgetürmten Haar und ihren elegant lackierten Zehennägeln in den filigranen Badesandalen wippte und die Kinder in ihrem bunten Badezeug wie hippe Accessoires am Arm hängen hatte.

»Nicht vor den Kindern!«, fauchte er schließlich, weil das immer passte, aber das entlockte seiner Frau nur ein müdes Lachen.

»Als ob es dich interessieren würde, wie es ihnen geht. Gerade als Sozialwissenschaftler solltest du wissen, wie sehr es junge Menschen verstört, Konflikte ihrer Eltern mitzukriegen!« Anna und Philipp lehnten sich an die blauen Fliesen und sahen dem Streit interessiert zu, während ihnen das Wasser aus den Badehosen tropfte; keins der beiden sah im Mindesten so aus, als würde die Situation es traumatisieren.

»Drück mal Pause, ich muss aufs Klo«, sagte Philipp schließlich und Evy scheuchte Anna mit dem Kleinen zur Toilette.

»Das kommt daher, weil du sie zu viel fernsehen lässt«, sagte Martin, froh, sich in einen normalen Streit zu flüchten. »Sie können die Realität nicht mehr von den blöden Videos auf ihren Handys unterscheiden.« Aber Evy hörte ihm nicht einmal zu.

»Wieso machen Sie sowas?«, wandte sie sich jetzt an Sonja, »Kriegen Sie es etwa als Überstunden bezahlt, wenn Sie dem Professor auch in der Freizeit zur Hand gehen?« Sie sprach im gleichen Tonfall wie neulich auf der Dinnerparty, als sie Sonja gefragt hatte, warum sie den Job an der Uni für so wenig Geld angenommen hatte.

Es ärgerte Martin maßlos, dass Evy sich nicht einmal in dieser Situation dazu hinreißen ließ, ordentlich zu fluchen, sodass er sie nicht zurechtweisen konnte. Sicher, damals hatte er sich in ihre Eleganz und Beherrschung verliebt, aber wie sollte man sich mit einer Frau zanken, die auch bei der Konfrontation mit der Geliebten höflich blieb? Es war dann schließlich Sonja, die die Fassung verlor, in Tränen ausbrach und zur Umkleide stürzte, wohin er ihr nicht nachlaufen konnte, jetzt, da die Kinder zurückkamen und er Evy beschwichtigen musste. Außerdem war die bezahlte Badezeit noch nicht um und es war Martin zuwider, eine teuer erworbene Berechtigung verfallen zu lassen, nur weil zwei Frauen hysterisch wurden.

Aber Evy musste sich gar nicht mehr beschwichtigen lassen, sie war plötzlich geradezu unheimlich ruhig und sprach von unausweichlichen Entwicklungen, die nicht mehr aufzuhalten und Entscheidungen, die nun zu treffen seien. Sie war sogar bereit, nach dem Vorfall mit ihm und den Kindern gemeinsam im Auto nach Hause zu fahren, weil er sich auf diese Weise ein teures Taxi sparte, nachdem Sonja offenbar nicht mehr vorhatte, ihn wie versprochen heimzufahren. Martin hasste unausweichliche Entscheidungen, die andere für ihn trafen, und beim Umziehen und Abtrocknen schwante ihm Übelstes, doch Evy hatte offenbar überhaupt nicht vor, ihn auf der Heimfahrt zu zerlegen. Sie war erstaunlich still, mit einem rätselhaften Lächeln auf den Lippen, und dann begann sie doch tatsächlich an der letzten Ampel, einen Song im Radio mitzuträllern. Sie verhielt sich kein bisschen wie eine verstörte, aufgebrachte Ehefrau, die Angst hatte, den geliebten Ehemann zu verlieren. Und Angst musste sie doch haben, nun, da sie merkte, dass er sich nicht ewig mit dem Platz als fünftes Rad zufriedengeben würde. Oder wollte sie ihm gar selbst mit der Scheidung drohen? Das sollte sie mal versuchen. Auf der Stelle fielen Martin mindestens sieben herrliche Gründe ein, die sein Leben verbessern würden, wenn er Evy und den Kindern entfliehen und eine eigene Wohnung beziehen könnte; nämlich ein ruhiger Montag, gefolgt von einem entspannten Dienstag, einem ereignislosen Mittwoch und friedlichen Donnerstag, und dann zur Krönung der Woche ein vollkommen freies Wochenende ohne Schmutz, Lärm oder Verpflichtungen. Jetzt lächelte auch Martin.

Die Trennung brachte dann nicht ganz so viel Erleichterung mit sich, wie er erhofft hatte. Aus irgendeinem Grund wurde von ihm erwartet, die Kinder jedes zweite Wochenende in seine neue saubere Wohnung zu holen. Auf eine teuflisch hinterlistige Art hatte Evy es so hingebogen, dass er sich jetzt genau genommen mehr mit ihnen beschäftigen musste als vorher.

»Papa, gehen wir zum Spielplatz, Papa, kann ich ein Eis? Papa, liest du uns was vor?« Manchmal rief er entnervt nach Evy, warum zum Teufel sie ihm nicht zu Hilfe eilte, bis ihm einfiel, dass seine Exfrau allein und vergnügt in seinem Haus saß, das er immer noch finanzierte, und sich von seinem Geld ein nettes freies Wochenende gönnte. Überhaupt sah es finanziell schlechter aus als je zuvor; der Richter hatte bestimmt, dass er nicht nur seine neue Wohnung, sondern auch das Haus weiter bezahlen sollte, um seinen Kindern »das gewohnte Umfeld zu sichern». Als ob es die interessierte, wo sie zukünftig herumkleckern und lärmen würden.

Auch hatte er zu seiner Verblüffung bemerkt, dass eine junge hübsche Frau, die in einen verheirateten Mann verliebt war, sich um einiges mehr anstrengte, solange sie den betreffenden Mann davon abhalten konnte, pünktlich in ein gemütliches Heim zu einer warmen Mahlzeit zurückzukehren, als sie es jetzt tat, nun, da dieser Mann von niemandem mehr erwartet wurde und endlich die Zeit gehabt hätte, mit ihr nach dem Beischlaf noch zu essen oder einfach fernzusehen, worum sie monatelang gebettelt hatte. Es schien beinahe, als habe Sonja überhaupt keine Lust mehr, für Martin zu kochen, seit sie nicht mehr mit Evys Kochkünsten konkurrieren musste. Sie strengte sich auch im Bett nicht mehr halb so an, seit sie sich nicht mehr gegen Evys langweilige Beischlafroutine abheben musste.

»Ich habe auch noch ein Leben neben dir, verstehst du?«, erklärte sie ihm sogar einmal. Nein, das verstand er nicht. Sie war doch weder verheiratet, noch hatte sie so schwere Verpflichtungen wie er mit den Kindern. Außer der halben Stelle an der Universität hatte sie überhaupt keine Verbindlichkeiten. Und wieso war es ihr gelungen, jederzeit einen freien Abend aus dem Hut zu zaubern, solange Martin fest an den häuslichen Alptraum gebunden war und nur gelegentlich kurz entwischen konnte, und jetzt, da die Planbarkeit ihrer Beziehung sich ins Unermessliche gesteigert hatte, beinahe überhaupt keine Abende mehr frei hatte? Da gab es plötzlich »die Mädels«, mit denen etwas unternommen und Volkshochschulkurse, die dringend belegt werden musste, sodass Martin sich beinahe schon benutzt vorkam, wenn Sonja ihn verlegen lächelnd sofort nach dem Sex aus der Wohnung warf. Das war natürlich lächerlich, keine Frau war imstande, einen Mann zu benutzen, darüber war er sich im Klaren. Im Prinzip hätte er sich freuen können, dass sie ihre Klagen nach mehr Zeit, verbindlichen Plänen und so etwas wie einer Zukunft mit ihm aufgegeben hatte, nur hatte das leider zur Folge, dass er sich jetzt sein Abendessen selbst zubereiten musste.

Und irgendwie vermisste er auch Evy, natürlich nicht das gluckende Muttertier der letzten Jahre, sondern die alte anschmiegsame Evy, die sie zu Beginn ihrer Ehe gewesen war. Dass er zuweilen abends nach den nicht vorhandenen Atemzügen der Kinder lauschte oder ihm die paradiesische Stille ein wenig zu still vorkam, führte er auf die jahrelange Gewöhnung zurück. Selbst entlassene Strafgefangene vermissten gelegentlich die vertraute Zelle, das hatte er erst neulich in einer wissenschaftlichen Abhandlung gelesen. Außerdem verflog das alberne Gefühl kaum eine Minute, nachdem die Kinder seine Wohnung erneut betraten.

Und nun lag ein komplettes verlängertes Wochenende vor ihm, an dem er die Kinder übernehmen musste, weil Evy mit einer Freundin verreiste oder so ähnlich. Drei ganze Tage, weil die Kinder Ferien hatten und er dummerweise zugegeben hatte, dass er am Montag freinehmen konnte, bevor sie ihm verraten hatte, dass sie wegfahren wollte. Und aus irgendeinem Grund hatte Evy Anna erlaubt, eine Halloweenparty auszurichten.

»Du weißt doch, wie wichtig das jetzt für sie ist, nach der verpatzten Sache im September«, sagte Evy zum Abschied und küsste die Kinder fröhlich.

Nein, wusste er nicht. Es war ein so langweiliger und detaillierter Grund gewesen, dass Martin geistig abgeschaltet und vor sich hingekritzelt hatte, während seine Exfrau ihm telefonisch durchgegeben hatte, wer wessen Geburtstag vergessen und damit irgendjemandes Gefühle verletzt hatte. Er wusste nur noch, dass die Folge elf kreischende Kinder sein würden, die am Freitag um 14 Uhr abgesetzt und erst vier volle Stunden später abgeholt werden sollten.

»Natürlich ist deine Wohnung zu klein dafür, übernachte doch einfach mit den Kindern im Haus«, hatte Evy ihm schon am Telefon großzügig angeboten, was sie jetzt langsam Wort für Wort wiederholte, als sei er ein Idiot. Und als brauche er ihre Erlaubnis, um in seinem eigenen Haus zu übernachten, vielen Dank auch.

Im Grunde genommen brauchte er sie tatsächlich, der Richter hatte nämlich befunden, dass das Haus juristisch gesehen nun Evy und den Kindern zustand, obwohl Martin es erworben und jede einzelne Rate bezahlt hatte. Offenbar erlangte man mit der Fähigkeit, kleine Menschen aus seinem Körper herauszupressen, nicht nur daheim uneingeschränkt die Herrschaft über alles, sondern auch sonst überall.

Es begann dann nicht ganz so furchtbar, wie er gedacht hatte. Philipp reichte seiner Mutter alle aussortierten Tütchen mit Lakritze durchs halb offene Autofenster und winkte ihr fröhlich hinterher. Anna drapierte derweil bunt schillernde Pappteller auf dem Esstisch und legte die restlichen Süßigkeiten auf dem Tisch zurecht.

»Hoffentlich erwischen wir auch was von den guten!«, seufzte sie. Wozu es nötig war, »die guten Süßigkeiten« fremden Kindern zu geben und anderswo neue zu erbetteln, war Martin unbegreiflich. Und »Süßes oder Saures«, was für ein unsinniger Spruch, die Kinder forderten Geschenke ein oder drohten mit Rache, das würde er persönlich »Saures oder sehr Saures« nennen. Doch seine Überlegungen wurden durch die schrille Türklingel und die Ankunft des ersten als Gespenst verkleideten kleinen Gastes unterbrochen.

Glücklicherweise merkte er bald, dass seine Anwesenheit nur pro forma benötigt wurde. Anna hatte einen genauen Zeitplan ausgetüftelt, nach dem festgelegt wurde, wann die Kinder kreischend im Kreis tanzten, wann sie kreischend die bereitgestellten Muffins aßen und wann sie kreischend aus dem Haus stürzten, um andere Leute zu belästigen. Er konnte in aller Ruhe durch Haus gehen und nach dem Rechten sehen.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, nach so vielen Wochen wieder in dem Schlafzimmer zu stehen, wo er fünf Jahre lang jede Nacht verbracht hatte, bis Evy die winzige Anna in ihrer Babyschale heimgebracht und »nur für den Anfang« auf seiner Bettseite einquartiert hatte. Schockierenderweise hatte Evy seit seinem Auszug alles verändert, sie hatte kitschige golden gesprenkelte Tapeten anbringen lassen und überall lagen flauschige rosa Kissen und Teppiche herum, als befinde man sich in einem Bordell. Wenn das ihre Auffassung davon war, die Kinder nicht zu verstören, dann gute Nacht. Am meisten erboste ihn allerdings, was er nicht sah, weder Stofftiere, Schnuller, noch abgelutschte Tücher lagen im Ehebett herum. Offenbar hatte Evy es mittlerweile fertig gebracht, die Kinder in ihren eigenen Zimmern schlafen zu lassen, wie sich das gehörte. Jetzt, nachdem er weg war und das gar nicht mehr nötig war. Plötzlich hatte sie offenbar erkannt, wie enervierend Krümel, Teddys und Gewimmer zu jeder Tages- und Nachtzeit waren, und dann entsprechend gehandelt. Aber nicht für ihn, nein, das hatte sie in acht ewigen Jahren niemals auch nur ansatzweise hingekriegt. »Wenn sie zu wenig Nestwärme kriegen, werden sie später gestört oder kriminell«, war eines ihrer Dauerargumente gewesen. Wie hoch die Wahrscheinlichkeit für Martin war, gestört zu werden, hatte sie natürlich nicht bedacht.

Er war beinahe versucht, seinen besten Freund Stefan anzurufen und sich über Evys unglaubliche Gefühllosigkeit auszulassen, bis ihm einfiel, dass er Stefan schon länger nicht zurückgerufen hatte. Vor ein paar Wochen hatte der ihm zweimal auf die Mailbox gesprochen und dringend um Rückruf gebeten, aber da lag Martins Affäre mit Sonja gerade in den letzten traurigen Zügen und er hatte keine Zeit gehabt, sich zu melden. Oder keine Lust, in einer Männerfreundschaft war so etwas durchaus akzeptabel, da musste nicht jede winzige Aktion oder Nichtaktion diskutiert und von allen Seiten beleuchtet werden. Man meldete sich, wenn es passte, trank ein Bier zusammen und Punkt.

Stefan war zum Glück ein Pragmatiker. Keine Frau zu wollen, fand er genauso gut, wie eine zu haben, nur nicht halb so anstrengend, das war immer sein Credo gewesen. Dennoch hatte er Martin zur Trennung von Evy nicht gratuliert, sondern ihn geradezu untypisch scharf gefragt, ob er sich damit wirklich sicher sei. Vielleicht war das sogar der Grund gewesen, weshalb Martin ihm in letzter Zeit aus dem Weg gegangen war. Kritik mochte schließlich keiner gern hören, am wenigsten von seinem besten Freund.

Gedankenverloren strich er über die seidige Überdecke und hatte plötzlich den Wunsch, sich in dieses einladende Bett zu legen. Seit wann war er so müde? Und was knackte da in der Diele? Waren die Kinder etwa schon zurück? Er hatte sie gar nicht Lärmen hören. Er erschrak zutiefst, bevor ihn Annas schrille Rufe erreichten. »Papa, Papa!«, brüllte sie und er stürzte ins Wohnzimmer, halb erleichtert, dass kein Fremder eingedrungen war, halb besorgt wegen ihrer untypischen Hysterie.

Und da lag Philipp mitten auf dem Boden, regungslos, und ein dünner Faden aus Blut rann ihm aus dem Mundwinkel. Die verkleideten Geister standen bedripst um ihn herum und Martin stockte für einen Moment. Was hatten sie jetzt wieder angestellt? Wie hatten sie es geschafft, seinen Sohn derart auszuknocken? Und was bedeutete das jetzt für ihn? Musste er den Abend in der Notaufnahme zwischen heulenden, bakterienverseuchten Kindern verbringen oder der vogelgesichtigen Großmutter seine Niederlage eingestehen und sie zu Hilfe holen?

Vorsichtig kniete er nieder und versuchte, Philipp den Puls zu fühlen. Zum Teufel, wie reagierte man in einer solchen Situation? Sein Erste-Hilfe-Kurs war dermaßen lange her, dass er sich nur noch verschwommen an Begriffe wie »Mund-zu-Mund-Beatmung« oder »stabile Seitenlage« erinnerte, aber nicht daran, wie man so etwas auszuführen hatte. Er legte seinen Kopf auf Philipps Brust und spürte deutlich den Herzschlag, genauso schnell und hämmernd wie seinen eigenen. Und Philipp atmete. So schlimm konnte es also nicht sein, oder? Zögerlich nahm er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte seinem Sohn vorsichtig das Blut aus dem Mundwinkel. Es war klebrig und unerwartet dunkel, beinahe wie der Kirschsaft, den Evy den Kindern bereitgestellt hatte. Einer der Geister kicherte.

»Findest du das lustig, ja?«, herrschte Martin ihn an, und da stimmten die anderen in das Gelächter mit ein. Philipp öffnete die Augen und zwinkerte Anna zu. Da packte Martin eine namenlose, ohnmächtige Wut.

»Ihr habt mir das nur vorgespielt, findet ihr das witzig?! Ich habe gedacht, Philipp wäre tot! Habt ihr eine Ahnung, was das für einen Vater bedeutet, das eigene Kind wie tot auf dem Boden liegen zu sehen? Habt ihr irgendeine Ahnung davon?« Er konnte sich nicht beherrschen. Kalte, nackte Panik stieg in ihm auf, die er erst jetzt wahrnahm, nachdem die scheinbare Gefahr vorüber war.

»Wollt ihr mein Leben zerstören? Glaubt ihr, dass ich weiterleben könnte, wenn einem meiner Kinder etwas zustoßen würde? Mein Leben wäre vorbei, verdammt noch mal!«

Anna legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm, aber er wischte sie grob weg, um sie gleich darauf in seine Arme zu ziehen und zu drücken. Tränen liefen ihm über die Backen und er zog die Nase unfein hoch. Philipp hatte sich aufgesetzt und näherte sich den beiden, woraufhin Anna sich halb losmachte und ihn in die Umarmung miteinschloss. So standen sie zu dritt, Martin wiegte seine Kinder und schluchzte.

»Es tut mir leid, es tut mir so leid … Ich muss mich bei den anderen entschuldigen«, flüsterte er schließlich, aber da hatte es schon geklingelt und der Abholzirkus mit lautem Rufen und Mützensuchen begonnen. Martin ließ Philipp und Anna widerwillig los und registrierte erstaunt, dass keins der Kinder erschreckt oder schuldbewusste dreinsah. Sie waren völlig mit ihren kleinen Aufgaben beschäftigt, Zuckertüten zusammenzuklauben oder sich mit Schnürsenkeln abzumühen. Dazwischen schwenkten fremde Erwachsene Geschenktüten, lächelten und riefen ihm unverständliche Floskeln zu. Sein Gefühlsausbruch war nur ein kurzer Moment in den vielen lauten Momenten des Nachmittags gewesen und ihn überkam eine Art Ehrfurcht vor Evy, die solche Veranstaltungen regelmäßig über sich ergehen ließ und sogar zu genießen schien. Sie war eine wirklich gute Mutter, das hatte er ihr eigentlich nie so gesagt. Und er war unglaublich erleichtert, dass Philipp nichts fehlte. Sein Herz hämmerte immer noch, vielleicht brauchte er einen Schluck aus der Hausbar. Zügig ging er zum Sideboard und goss sich einen Whiskey ein. »Soll ich dir Eiswürfel holen, Papa?«, fragte seine Tochter und er nickte verblüfft. Sie kannte seine Gewohnheiten, sie wusste, was er jetzt brauchte. Wieso war ihm das nie früher aufgefallen?

Und als er die goldbraune Flüssigkeit herunterschüttete und der letzte Geist abgeholt worden war, setzte die Erkenntnis mit einer unerwarteten Wucht ein: Er liebte die Kinder. Er liebte sie so sehr, dass er es sich nicht vorstellen konnte, übermorgen in seine kleine trostlose Wohnung zurückzukehren. Das hier war sein Haus, sein Heim; die Kinder waren Monster, aber sie waren seine Monster. Und er liebte Evy, damit hatte er niemals aufgehört, nicht mal während der kurzen kaputten Sache mit Sonja. Wieso hatte er nicht um sie gekämpft? Er hatte sie einfach stehenlassen, mit diesem resignierten, traurigen Blick und ihrer beherrschten höflichen Stimme.

Er musste sie anrufen. Vielleicht war es noch nicht zu spät, das Trennungsjahr war noch nicht vorüber, die Scheidung noch nicht ausgesprochen.

»Könnt ihr kurz allein spielen, ich muss Mama anrufen«, murmelte er und Anna begann, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen.

»Geh dich mal waschen, das färbt sonst noch deinen Kragen!«, knurrte er Philipp an und war dankbar, endlich halbwegs zu seiner alten Fassung zurückzufinden.

Im Schlafzimmer drückte er Evys Kurzwahltaste, aber sie hatte die Mailbox an. Nein, er wollte keine Nachricht hinterlassen, was er ihr sagen musste, war zu persönlich, zu wichtig.

Während der ganzen Bade- und ins-Bett-Bring-Zeremonie war er nervös und wie auf Kohlen und als die Kinder endlich in ihren Betten lagen, konnte er unmöglich weiter tatenlos zuhause herumsitzen. Wenigstens mit Stefan musste er sprechen, von Angesicht zu Angesicht bei einem Bier, nicht durchs Telefon. Vielleicht sollte er doch die Habichtsnase anrufen und sie darum bitten, für zwei Stunden herüberzukommen?

Die Schwiegermutter reagierte unerwartet freundlich und versprach, schon in einer Viertelstunde da zu sein. Martin trat ins halbdunkle Kinderzimmer und betrachtete die schlummernden Gesichter seiner geliebten kleinen Monster. Im Schlaf sahen sie wie Engel aus. Er brauchte sie, sogar dringender, als sie ihn brauchten. Er würde dafür sorgen, dass sie wieder zusammen lebten, alle vier.

Entschlossen verabschiedete er sich von der pünktlich eingetroffenen Schwiegermutter und setzte sich ins Auto. Er hatte nur einen Whiskey on the Rocks getrunken, das Fahren war kein Problem. Notfalls würde er später ein Taxi nehmen, falls Stefan mit ihm in die Kneipe um die Ecke gehen wollte.

Doch Stefan machte zunächst nicht einmal die Tür auf. Seltsam, bei ihm brannte doch Licht. Dann fiel Martin ein, dass ja immer noch Halloween war und sein Freund sicher längst genug von den johlenden, bettelnden Kinderhorden hatte, die überall einfielen. Wahrscheinlich hatte er einfach die Klingel abgestellt, wie er ihn kannte. Dann musste er ihn doch erstmal anrufen. Doch bevor er die Nummer seines besten Freundes wählen konnte, öffnete sich die Tür. »Saures oder sehr Saures!«, rief er gutgelaunt, doch das Lachen erstarb ihm auf den Lippen, als er einen goldenen Teller sah, auf dem sich Packungen von Lakritzpäckchen stapelten. Einen Teller mit den ausgemusterten Süßigkeiten seiner Kinder, der ihm von einer zarten Hand gereicht wurde, deren zugehöriger Arm in einem jadefarbenen Morgenmantel mit aufwändiger Goldstickerei verschwand.

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