Leseprobe aus Glitzerkram

marawinter Sonstiges Leave a Comment

Ich stehe in meinem verstaubten Bad und trage als allerletztes Wimperntusche auf. Dafür nehme ich mir Zeit und tusche jedes Härchen einzeln, bis meine Wimpern gleichmäßig dunkelblau strahlen. Jetzt brauche ich bloß noch die schlichten, seriösen Haarklammern, die waren da doch irgendwo in der lila Schachtel – oder in der gelben oder in dem grünen Döschen oder in einem meiner dreizehn niedlichen Körbchen auf der Ablage.

Leider ist die Ablage so zugestellt mit Deo, Zahncreme, Bodylotion, Wattepads, feuchtigkeitsspendenden Gesichtsmasken und tausend rosa Glitzerhaargummis und -spängchen, dass ich nicht wirklich an die Körbchen herankomme. Und ich habe jetzt echt keine Zeit, das alles wegzuräumen. Nehme ich halt die Blümchenspangen, die Röschen sind so klein, dass sie gar nicht auffallen. Hoffe ich.

Ich bin selten hier, weil ich die meiste Zeit bei Jan verbringe, aber meine Businessverkleidungsklamotten lagern natürlich zu Hause, die brauche ich ja nur ganz selten. Naja, in letzter Zeit leider öfters.

»Wir sind hier kein Studentenmagazin«, hat der Chef mit zugekniffenen Augen gesagt, »kaufen Sie sich ein paar ordentliche Kostüme, Frau Berger.«

Gut, vielleicht war es eher ungeschickt, zum Bewerbungsgespräch in Batikkleidchen und Hippiesandalen zu kommen, aber wir hatten schließlich einunddreißig Grad.

Und außerdem waren die Referenzen des Kölner Studentenmagazins schließlich meine Eintrittskarte in die heiligen Hallen des Interieur Magazins gewesen. Für diesen Praktikumsplatz war ich sogar bereit, auf meine Sommerferien zu verzichten, dabei hatte ich mich eigentlich bloß dort beworben, um meinen Vater ruhig zu stellen, der genau zehn Stunden nach meiner Examensfeier anfing, mich mit seinen Zukunftsängsten zu nerven. Völlig verkatert hatte ich am Telefon – wär’ ich bloß nicht rangegangen! – versprochen, bis Ende der Woche die erste Bewerbung loszuschicken. Und die Ausschreibung von Interieur war die einzige, die mir wirklich gefiel. Also polierten Steffi und ich meinen Lebenslauf auf und bastelten großartige Referenzen zusammen. Ich hätte trotzdem nie erwartet, zum Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden und erst recht nicht, den Praktikumsplatz dann auch zu bekommen.

Aber ein Gott oder das Schicksal hatten Erbarmen mit mir, oder Herrn Bodenkampp gefielen einfach bloß meine Beine, wie Jan vermutete. Jedenfalls musste ich ab August täglich antreten und Pressemitteilungen über Echtholzparkett, pflegeleichten Kunstrasen und hochwertige Klobürsten online stellen, anstatt mit Jan an den See zu fahren oder mit Steffi und Simone im Freibad abzuhängen.

Bezahlt wurde ich natürlich nicht, aber ich sammelte »wertvolle Erfahrungen«, wie mein Vater mir versicherte.

Der Wert meiner Erfahrungen hielt sich zu Beginn zwar eher in Grenzen, weil der Chef Anfang August auf der Möbelmesse in Amsterdam weilte und seine Mitarbeiter mir nicht allzu viel zutrauten. Solange Herr Bodenkampp nicht im Büro war, durfte ich außer stumpfsinnigem Artikel-online-Stellen nichts machen, keine Themen vorschlagen, nicht ans Telefon gehen, nicht mal Kaffeekochen durfte ich. (Es ist mir bis heute untersagt, die teure, komplizierte Kaffeemaschine zu bedienen, denn dafür braucht man eine Einweisung, und »dafür ist nun wirklich keine Zeit übrig«, wie die Chefredakteurin Susanna mir am ersten Tag mitteilte. Daher muss ich immer unterwürfig bei einem meiner Kollegen um Kaffee bitten, und ich glaube, es bereitet ihnen einen Mordsspaß, mich zu vertrösten, weil sie noch »was ganz Wichtiges« fertigmachen müssen.)

Susanna war mir gegenüber erstmal misstrauisch eingestellt, weil ich »in ihr Ressort eindringen wollte«, sprich, sie unterstellte mir, heimlich den Wunsch zu hegen, eigene Artikel zu schreiben, womit sie auch durchaus Recht hatte. Agnes, die untergebene Redakteurin, war dagegen sauer, weil ich ihren Computer bekommen hatte und sie meinetwegen zu Pierre ins Büro ziehen musste. Ich hatte zwar angeboten, mit ihr zu tauschen, aber die Chefsekretärin Frau Spitz untersagte das strengstens, damit ich keine »Interna« spitzbekam und möglicherweise Firmengeheimnisse ausplaudern konnte. Pierre als Anzeigenleiter verhandelt nämlich täglich mit potentiellen Kunden über geheime Summen für halbseitige Anzeigen. (Die geheimen Summen stehen zwar in der Anzeigenliste, aber anscheinend traut Frau Spitz mir nicht zu, ein PDF zu öffnen.) Außerdem sollte ich »selbstständig arbeiten«, was im Klartext bedeutete, dass nach dem ersten Tag niemand mehr Zeit hatte, mir irgendwas zu erklären, andererseits sollte ich aber »keine eigenmächtigen Entscheidungen treffen«, was Dörte mir vorgeworfen hatte, als ich das Foto eines besonders attraktiven Metallbauers der Fachrichtung Konstruktionstechnik blau anstatt schwarz umrahmt hatte. Ich fand, dass seine Augen so besser zur Geltung kamen, aber Dörte sah das anders. Dörte ist die Auszubildende und hasst mich, weil ich ihr »die Homepage weggenommen habe«, für deren Betreuung sie sich zwei Jahre lang selbst qualifiziert hat.

»Die hat bloß keine Lust, sich um die Buchhaltung zu kümmern«, hielt Susanna dagegen, »die bastelt den ganzen Tag an der blöden Website rum und geht Schlag fünf nach Hause, egal, was liegenbleibt.«

Doch sobald der Boss zurück war, wehte ein anderer Wind. Er verschanzte sich zwar im hintersten Büro und durfte offiziell nicht gestört werden, aber per E-Mail konnte man ihn kontaktieren, denn das merkte Frau Spitz nicht. Entgegen ihren Prophezeiungen antwortete er sehr wohl auf Themenvorschläge und Artikelentwürfe und meistens war sein Feedback auch recht positiv. Ich war wahnsinnig stolz, als er meinen ersten Artikel absegnete, obwohl Agnes danach zwei Tage lang nicht mehr mit mir redete. Sie ist nämlich im fünften Monat schwanger und momentan sehr emotional. Die Vorstellung, jemand könne sie ersetzen, macht ihr schwer zu schaffen, obwohl sie uns früher oder später für eine dreijährige Babypause verlassen wird. (Eher früher, weil ihr seit Wochen schlecht ist und sie schon jetzt allergisch auf Druckerschwärze reagiert.)

Aber Susanna reagierte überraschend wohlwollend auf meinen Erfolg und schustert mir seitdem einige Randthemen zu. Meine Artikel stehen zwar bis zum Anzeigenschluss auf der Warteliste, aber durch kurzfristige Absagen einiger Werbekunden landeten sowohl »Warum Gärten glücklich machen« als auch »Die Haustür – Visitenkarte des Eigenheims« von Noreen Berger in der Septemberausgabe des Interieur Magazins.

Bis auf die Klamottenfrage war Herr Bodenkampp wirklich zufrieden mit mir, und seit einem Streifzug durch die Kölner Second-Hand-Läden ist auch dieses Problem behoben. Außerdem hat Steffi mir gezeigt, wie ihr altes Bügeleisen funktioniert und mir spießige Perlohrringe geliehen.

Ein letzter Blick in den Spiegel – der müsste auch mal wieder geputzt werden! – und ich bin beruhigt.

Der knielange schwarze Rock, die blütenweiße Bluse mit gebügeltem Kragen und der graue Blazer umfassen meine beinahe schlanke Taille, Feinstrumpfhose und High Heels zaubern meine Beine lang und schlank und mein dunkelblondes Haar schlingt sich brav zum perfekten Knoten. Bis auf die rosa Spängchen sehe ich aus wie eine erfolgreiche Geschäftsfrau und niemand würde mehr die chaotische Studentin in mir vermuten, die ich vor vier Monaten noch war.

Ich komme mir zwar immer noch irgendwie verkleidet vor, wenn ich so vor die Tür gehe, aber vielleicht geht das anderen Berufseinsteigern auch so?

Oh Mann, Berufseinsteiger, das klingt so erwachsen. Aber mit siebenundzwanzig und beendetem Studium muss man das vielleicht auch sein. Irgendwie habe ich mir nie so richtig vorstellen können, dass die Uni irgendwann tatsächlich zu Ende geht.

Die vergangenen sieben Jahre habe ich überwiegend mit Lesen, Zusammenfassen und Kaffeetrinken verbracht, und das hat mir sehr gefallen. Vorlesungen und Seminare habe ich natürlich auch öfter besucht, aber man konnte unliebsame Kurse doch meistens noch um ein, zwei Semester verschieben. Oder sich mit einer kleinen Hausarbeit um eine schwierige Klausur drücken. Bis uns die blöde Bachelorordnung überfallen hat und wir auf einmal ziemlich rasch das Examen durchziehen mussten, bevor die alte Prüfungsordnung ungültig wurde.

Die Fülle an Lernstoff hat mich erstmal überwältigt, aber irgendwie gewöhnt man sich ans Bulimielernen, abends alles reinschaufeln und am nächsten Tag auskotzen. Oft wusste ich am Nachmittag schon nicht mehr genau, was ich morgens zu Papier gebracht hatte, aber das war ja auch egal. Und nach einem halben Jahr Lernkoma war auf einmal alles vorbei.

Zur Examensfeier trugen wir alberne amerikanische Doktorhüte und tranken Kirschbowle, und bevor ich in ein After Work Loch fallen oder mit Jan Last Minute wegfliegen konnte, spazierte ich schon frühmorgens in Blüschen und Bleistiftrock ins Büro am Mediapark.

Und jetzt sind der Sommer und das Praktikum vorbei und heute steht das »Abschlussgespräch mit weiterführenden Optionen« an. Wenn mich nicht alles täuscht, bin ich ab morgen festangestellte Online-Redakteurin mit Weihnachts- und Urlaubsgeld. Ich habe mich die letzten beiden Monate wirklich angestrengt und viel mehr Fleiß und Ehrgeiz bewiesen, als ich eigentlich besitze. Aber ich wollte meinem Bruder Philipp den Triumph nicht gönnen, mich scheitern zu sehen, der mir prophezeit hatte, spätestens nach einer Woche das Handtuch zu schmeißen. Und auch Mama hält nichts von dieser »oberflächlichen Konsumscheiße«, zu der sie Designermöbel und Werbung im Allgemeinen zählt und sie befürchtet, mein Seelenheil könnte durch diesen Job ernsthaften Schaden nehmen.

Aber ich wollte auch der restlichen Familie beweisen, dass ich bestens für mich selbst sorgen kann. Mamas Schwester Elvira, die sich beizeiten an einen wohlhabenden, saudämlichen Banker verkauft hat, predigt mir nämlich seit meiner Konfirmation, dass ich mir einen liquiden Ehemann angeln soll, bevor »mein Reis verkocht ist«.

Und Jan hat mir sowieso nicht zugetraut, pünktlich um acht irgendwo zu erscheinen. Mein Freund hält mich nämlich für liebenswert, schusselig und vor allem faul. Aber ich bin nicht faul, ich vermeide bloß unnötige Anstrengungen. Wozu soll man seine Bettdecke jeden Morgen umständlich falten, wenn man sie abends sowieso wieder zerknautscht? Wozu Jeans und Unterwäsche bügeln, wenn man sie auch glatt tragen kann? Und wen bitte interessiert es, ob mein Geschirr farblich zusammenpasst? Eben.

Aber Jan hat gut reden, der schreibt an seiner Doktorarbeit und kann jeden Morgen ausschlafen. Außerdem schreibt er eigentlich gar nicht, sondern recherchiert bloß ein bisschen und trägt, wenn er überhaupt was macht, abends die Ergebnisse zusammen. Danach ist er geschafft und muss ein Bier trinken und dann hat er sich »warmgetrunken« und muss daher noch ein Bier trinken. Oder einen Joint rauchen. Zum Entspannen von seinem stressigen, stressigen Tag.

Eigentlich hat mir das Leben so auch immer ganz gut gefallen, aber jetzt, wo ich um acht perfekt gestylt im Büro antanzen muss, ärgert es mich schon etwas, dass mein Freund in meiner Mittagspause noch im Bett liegt. Aber heute wird er rechtzeitig aufstehen, das hat er versprochen, denn ich habe mir den Nachmittag freigenommen, um zu feiern.

Ich habe mich zwar nie als Expertin für Inneneinrichtung gesehen, aber hey, Redakteurin beim Interieur Magazin, das klingt doch nach was, oder? Und irgendwas muss ich ja schließlich auch machen, jetzt, wo das schöne Leben – sprich die Uni – vorbei ist und »der Ernst des Lebens« beginnt. Geld verdienen und ein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden oder so. Scheiße!

Aber ehrlich gesagt bin ich irgendwie auch ein bisschen stolz. Nicht jeder hat schließlich gleich nach dem Examen einen festen Arbeitsvertrag in der Tasche. Okay, so gut wie fest!

Ich habe Herrn Bodenkampp nämlich raunen hören, dass sie sich die aufwändige Suche nach einer neuen Redakteurin diesmal zum Glück sparen können, weil sie ja mit der neuen Praktikantin das große Los gezogen haben. Offenbar befürchtet er, bei Agnes könnten stündlich die Wehen einsetzen und sie würde ihm den teuren Teppich ruinieren, daher würde er sie lieber früher als später in den Mutterschutz schicken.

Meine Kommilitonen treiben sich beim Arbeitsamt rum, fahren Taxi, schreiben Bewerbungen oder kramen in der Bibliothek nach einem Thema für ihre Dissertation. Da ist es schon ein Glücksfall, dass ich so unvermutet in diese Branche gestolpert bin und dass mein Chef mich mag. Auch wenn meine Wohnungseinrichtung aus IKEA-Möbeln und Flohmarktfundstücken zusammengebastelt ist, aber das sieht mir ja niemand an. Hoffentlich.

Ich schaue auf die Uhr und sehe, dass ich sehr gut in der Zeit liege, was mich irgendwie irritiert. Ich bin es so gewohnt, spät dran zu sein, dass es mich richtig nervös macht, nicht zur Bahn rennen zu müssen. Ich hole mir um die Ecke noch einen Coffee to go (man weiß ja nie, wann man im Büro einen bekommt), als mein Handy klingelt.

Es ist meine Cousine Sandra, Tante Elviras wohlgeratene und einzige Tochter, die mich an das Co-Taufgeschenk für ihren Sohn Cedric-Noel erinnert, der die drohende Taufe seiner Schwester ohne eine Extraportion Aufmerksamkeit offenbar nicht überstehen kann.

»Er weiß natürlich, dass Letizia-Julienne im Mittelpunkt stehen wird, und ein gewisses Maß an Frustrationstoleranz kommt seiner psychischen Entwicklung auch zugute, aber er darf sich nicht völlig an den Rand gedrängt fühlen. Vor allem du als Patentante seiner neuen Spielgefährtin/Konkurrentin solltest ihm die Bedeutsamkeit des Taufgeschehens vermitteln«, erläutert sie mit ihrer perfekten Telefonstimme.

»In Form einer materiellen Aufmerksamkeit?«

»In jeder Form. Nur eben dezent, er sollte ein Drittel der allgemeinen Aufmerksamkeit bekommen.«

»Vielleicht kannst du mir die Maße von Letizias Geschenken durchgeben, dann versuche ich, für Cedric etwas zu besorgen, was einem Drittel des Volumens entspricht«, sage ich sarkastisch.

»Das ist eine gute Idee«, meint sie erleichtert, »und noch was, Noreen. Es wäre schön, wenn du dich ein kleines bisschen, hm, konservativer herrichten könntest. Ich meine, ein schlichtes Kleid und eher klassischen Schmuck, nicht diesen selbstgebastelten Glitzerkram. Nichts gegen deine kreative Ader, aber zu der Feier kommt schließlich auch Norberts Familie und da müssen wir schon einen guten Eindruck machen.«

Soso, müssen wir das? Der Kerl hat sie doch schon geheiratet, was gibt es da noch vorzutäuschen? Oder buhlen sie um die Gunst einer reichen Erbtante, von der ich nichts weiß? Aber was gehen die Alte wiederum meine Ohrringe an?

»Und Noreen, könnte Jan vielleicht vorher noch zum Friseur gehen? Nur dieses eine Mal?«

»Ich werde sehen, was ich tun kann«, knurre ich und verspreche, mir von Tante Elvira eine Perlenkette zu leihen.

Die ganze Bahnfahrt über ärgere ich mich, dass ich der blöden Kuh nicht widersprochen habe. Jans Kopf ist auch ungestriegelt tausendmal mehr wert als der ihres gegelten Norberts.

Sandra ist neunundzwanzig und perfekt. Ihre Mutter hat sie von klein auf in Designerkleidchen gesteckt und sie mit Barbies, Reitstunden und Cluburlauben bei Laune gehalten. Dagegen hat meine Mutter unsere Klamotten vorzugsweise selbst genäht, gehäkelt oder gebatikt und uns nach wechselnden esoterischen Weltanschauungen erzogen.

Sandra hat immer alles richtiggemacht, sie hat sofort nach dem Abi ihr BWL-Studium durchgezogen und sich einen tollen Job geschnappt. Mit fünfundzwanzig war sie mit einem Anwalt verlobt und zur Hochzeit trug sie ein Kleid von Versace.

Sie wurde in ihrer Hochzeitsnacht schwanger und hat im pädagogisch wertvollen Abstand von zwei Komma fünf Jahren zwei entzückende Kinder zur Welt gebracht. Cedric kennt mit seinen drei Jahren alle Automarken und beherrscht den Konjunktiv, und Letizia hatte einen Apgar-Wert von 10 und schläft seit der dritten Woche durch.

Zu Cedrics Taufe drei Monate nach der Geburt trug Sandra bereits wieder Kleidergröße 36. Letizia wird mit fünf Monaten getauft, wahrscheinlich trägt Sandra dann Größe 34. (Oder Null. Ich glaube, ab 32 abwärts heißt alles Null, oder man muss es in Kindergrößen angeben.)

Außerdem sind ihre Haare seidig und fallen bei jedem Wetter in sanften Wellen auf ihre Schultern. Man muss sie einfach hassen.

Die Bahn fährt schwungvoll um die Ecke und ich kralle mich an meinem Sitz fest. Scheiße, jetzt ist mir ein rosa lackierter Nagel eingerissen. Mir wird heiß und kalt. Oh Mann, wieso kann nicht ein einziges Mal alles einfach klappen? Ich habe eineinhalb Stunden in das blöde Outfit investiert und jetzt komme ich mit Schweißflecken unter den Armen und abgeblättertem Nagellack an!

Vielleicht sollte ich einfach an der nächsten Haltestelle aussteigen und wieder zurückfahren? Ich könnte den Bodenkampp anrufen und ihm sagen, dass ich krank sei. Sommergrippe oder Magendarmvirus oder so was, hochansteckend. Ich bitte ihn einfach, mir mein Abschlusszeugnis zuzuschicken. Der gibt mir den Job doch sowieso nicht, ich bin doch nicht mal in der Lage, zwei Stunden lang annähernd so toll auszusehen wie meine blöde Cousine. Meine Füße tun mir auch schon weh, ich kriege sicher eine Blase! Wie schaffen die anderen Mädels das bloß, den ganzen Tag in High Heels herumzulaufen und dabei auch noch elegant auszusehen? Ich sehe mit High Heels nur elegant aus, wenn ich sitze und mich nicht bewege. Aber dann sieht man die Schuhe ja auch wieder nicht so richtig.

In meiner Verzweiflung rufe ich Steffi an und klage ihr mein Leid. Steffi ist meine beste Freundin und weiß immer Rat. Wir sind zusammen aufgewachsen und haben schon den Sand aus dem gleichen Sandkasten gegessen. In der Grundschule haben wir für dieselben Jungs geschwärmt, was uns nur enger zusammenschweißte. Als Teenies haben wir zusammen geraucht und getrunken und niemand kennt mich so gut wie sie. Trotzdem ist aus ihr eine energische, ehrgeizige Frau geworden, während ich die Verkörperung des Chaos bin.

»Du musst deine Ziele fokussieren!«, unterbricht Steffi mein Lamento, »du bist eine intelligente, souveräne Frau, und du holst dir jetzt diesen läppischen Vertrag!«

»Aber mein Nagellack blättert ab.«

»Wie viel Zeit hast du noch? Du gehst jetzt zu Müller zu den Testnagellacken und malst dreimal über die eingerissene Ecke, die haben wirklich jeden Farbton da, dann sieht man das nicht mehr.«

»Aber ich schwitze.«

»Du solltest dir wirklich dieses Aluminiumdeo kaufen, zweimal pro Woche über Nacht einwirken lassen und deine Achseln bleiben knalltrocken. Oder du lässt dir gleich die Schweißdrüsen veröden, ich kann dir einen Ratenvertrag mit meiner Kosmetikerin aushandeln, die ist da ganz flexibel.«

»Dafür ist es jetzt zu spät.«

»Hör auf mit dem Gejammer und konzentrier’ dich auf deine Stärken. Schau in den Spiegel, du siehst toll aus!«

»Hier ist aber kein Spiegel«, sage ich trotzig und steige aus. Ich betrachte mein Spiegelbild im nächsten Schaufenster. Eigentlich hat sie recht, sogar verzerrt sehe ich heute richtig gut aus, nur den Glitzerkajal sollte ich mir vielleicht schnell noch abwischen.

Aus dem Hörer tönt es: »Bist du noch dran?«

»Ja.«

Ich klemme mir das Handy zwischen Schulter und Ohr und wische an meinen Augen herum.

»In Zukunft nimmst du Ersatzkleidung mit, ein Deo, Nagellack und Odolspray.«

»Aber das fällt doch auf, wenn ich mich zwischendurch umziehe.« Toll, jetzt sind meine Augenlider rot.

»Quatsch, du nimmst natürlich eine identische Bluse mit, den gleichen Rock und so weiter, dann kannst du kurz auf die Toilette gehen und dich frisch machen, das merkt niemand!«

»Aber dann muss ich ja alles doppelt kaufen!«, sage ich entgeistert.

»Besser dreimal«, meint Steffi, »dann bleibst du relaxed, auch wenn mal ein Fleck draufkommt.«

»Aber das ist doch viel zu teuer.« Im Second-Hand-Laden gibt es schließlich nur Einzelstücke.

»Du willst doch Karriere machen, oder nicht?«, fragt Steffi drohend. »Dann musst du eben was investieren.«

»Ja«, erwidere ich kleinlaut und verabschiede mich, denn jetzt muss ich wirklich los, sonst komme ich noch zu spät.

Bei Müller gibt es hunderttausend Nagellacke und ich arbeite mich durch verschiedene Rosétöne, bis die Farbe angeglichen und der Riss nicht mehr zu sehen ist.

Auf den letzten Metern bis zum Mediapark murmele ich mein Mantra vor mich hin: »Ich bin eine aufstrebende Karrierefrau, die freudestrahlend und pünktlich zur Arbeit erscheint. Ich bin aufgeschlossen und kommunikativ und liebe High Heels! Ich fühle mich damit erwachsen und dynamisch!«

Siehst du, klappt doch! Meine Füße in den High Heels tun immer noch weh, aber ich ignoriere es.

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