Ich belausche die Kinder, die sich auf dem Weg zur Schule heimlich Süßigkeiten in meiner Bäckerei kaufen. Heute haben sie darüber gestritten, ob ein Junge ein rosafarbenes Hemd tragen darf. Die meisten der Gruppe waren dagegen, denn „sonst wird man schwul.“ Was das bedeutet, wissen sie vermutlich nicht, aber es klingt gefährlich.
Sie sind so dumm. Zu meiner Zeit war Rosa die Farbe der Jungen, denn es stand ebenso wie Rot für Aggressivität und Kraft. Aber davon wissen die modernen Eltern nichts. Sie erziehen ihre Kinder im Glauben daran, dass eine Vorliebe für Blau angeboren und die sexuelle Identität Folge der Kleiderwahl ist.
Für mich war blau immer die Farbe der Liebe, der Sehnsucht und der Verheißung. Als Gerd und ich zum ersten Mal miteinander getanzt haben, hat er mir ein Vergissmeinnichtsträußchen überreicht. Er hatte es nicht gekauft, sondern wildromantisch am Wegrand gepflückt. Auch sonst lief alles unkonventionell zwischen uns ab. Wir fuhren mit seinem Cabrio übers Land, küssten uns im Wald und badeten heimlich in einem Waldsee. Er wollte alles und ich gab es ihm gerne. Ich wusste ja, dass ich aufgrund einer Erbkrankheit keine Kinder empfangen konnte.
Ich verstand gut, dass er zum Studieren fortziehen musste. Es gefiel mir sogar, mich nach ihm zu sehnen.
In einem Winkel meines Herzens hatte ich gehofft, dass er zurückkommen und mich heiraten würde, aber als er die blonde, zarte Beatrice mit in unseren Ort brachte, akzeptierte ich das sofort und schenkte dem jungen Paar einen Nusszopf als Willkommensgeschenk.
Beatrice nahm das zum Anlass, zukünftig immer bei mir einzukaufen. Es freute mich, dass ich Gerd auf diese Weise doch etwas verwöhnen konnte. Ich packte ihm stets das beste Brot, Rosinenkuchen und meine selbstgekochte Marmelade ein.
Ab und zu schickte ich ein Fläschchen Vergissmeinnichtlikör mit. Ich wusste, dass Beatrice aus Prinzip nie Alkohol trank, daher konnte ich sicher sein, dass es richtig ankam.
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