Meine Mutter hat eine Generation von Weicheiern großgezogen.
Meine Schwester Philippa kann sich nur Filme ab sechs anschauen, weil sie sonst Alpträume bekommt. Sie ist achtundzwanzig und hat zwei Kinder, die sie pädagogisch wertvoll erzieht. Ihren Mann Jens hält sie sich fürs Grobe, also fürs Autofahren, Hecken schneiden oder Rasenmähen. Zum Reifenwechseln braucht sie ihn nicht, weil das unemanzipiert ist und das außerdem der Tankwart macht.
Mein Bruder Tassilo ist fünfzehn und ruft bei Regen immer die Mama an, damit sie ihn vom Training abholt. Mein Bruder spielt nämlich Basketball und ist der most valued player in seiner Mannschaft. Und dem most valued player darf kein Übel in Form eines bösartigen Schnupfens oder sonstiges Unheil widerfahren, denn sonst droht die Niederlage gegen die Katzenheimer Bonzen, und das könnte die Mannschaft emotional nicht verkraften.
Ich selbst bin glücklicherweise emotional gefestigt, dafür ist allerdings mein Wärmehaushalt nicht so ganz im Lot. Ich trage meine Kleidung in Schichten, um mich schnell an Wetteränderungen anpassen zu können. Leider geht das oft auf Kosten der Optik, aber man kann eben nicht alles haben. Wenn ich die Wahl zwischen Baumwollstrumpfhose mit Wollpulli oder einem sexy Outfit inklusive Blasenentzündung habe, entscheide ich mich definitiv gegen die Blasenentzündung. Außer, wenn es um etwas Wichtiges geht wie ein Date, den Führerschein oder die mündliche Abiprüfung. In diesen Fällen bin ich durchaus bereit, meine Gesundheit kurzfristig anderen Zielen unterzuordnen, aber glücklicherweise kommt sowas ja nicht allzu oft vor.
Ich bin trotzdem ein hübsches Mädchen, mit meinem klassischen Gesicht und meinen ausdrucksstarken Augen. „Deine Augen sind dein Kapital, Annika!“, hat mein Papa immer gesagt. Seit der Scheidung kommt er selten nach Nürnberg, deswegen sagt er es nicht mehr so oft.
Meine Haarfarbe lässt allerdings etwas zu wünschen übrig, sie lässt sich weder einem strahlenden Blond noch einem entschiedenen Hellbraun zuordnen. Daher binde ich mir meist einen Pferdeschwanz und versuche, mit schwarz umrandeten Augen von meiner Frisur abzulenken.
Leider neige ich dazu, im Herbst ein wenig zu viel Schokolade zu essen, und das rächt sich dann an meinem Bauch, der gerne ein bisschen Brennstoff für Notzeiten einlagert. Aber was soll man machen, wenn es draußen immer trüber wird und die Glückshormone aufgebraucht sind?
Wenigstens kann man ab Oktober das schlimmste mit langen Pullis kaschieren. Meine Wollunterwäsche trägt zwar auch nicht unbedingt zur Verbesserung meiner Silhouette bei, aber wenn Tassilo mich verspottet, drohe ich immer damit, seinen Kinderausweis herumzuzeigen, denn seine Freunde wissen nichts vom Opernwahn unserer Mutter und nennen ihn lässig „Ted“. Seit ich ausgezogen bin, streiten wir uns aber fast gar nicht mehr.
Ich hatte das große Glück gleich nach dem Abi nicht nur einen Studienplatz zu bekommen, sondern auch eine supercoole WG zu finden, die nah an der Uni und bezahlbar ist.
Kleine, liebenswerte WG sucht drittes Mitglied zur Vervollständigung ihrer persönlichen Psychosen. Du musst nicht alternativ sein, aber tolerant; idealerweise mit Interesse an Kultur und Subkultur. PS: Bitte keinen Putzzwang, das haben wir schon.
Mama hat geweint, als sie davon erfuhr, aber da war der Vertrag schon unterschrieben. Außerdem weint sie sehr oft, sodass man nicht all seine Pläne danach richten kann.
Mir war vor allem wichtig, dass wir eine Heizkostenpauschale haben, denn im Winter muss ich täglich baden und die Heizung auf 5 aufdrehen, sonst kann ich erst gar nicht aufstehen. Philippa bemerkt gelegentlich gehässig, dass der Winter bei mir von September bis Mai dauert, aber ich denke, dass sie mir in Anbetracht ihrer eigenen Marotten die Befriedigung meiner harmlosen kleinen Bedürfnisse zugestehen kann.
Außerdem lege ich nicht mehr viel Wert auf ihre Meinung, seit ich Lara habe. Lara gehört zum Inventar der Wohnung und hat nach dem Besichtigungstermin sofort für mich gestimmt, weil ich positive „Vibrations“ ausgesendet habe. Unser Mitbewohner Basti wollte lieber die Friseurin im zweiten Ausbildungsjahr, aber seine Kriterien waren nur „prüde“ oder „leicht zu haben“, und außerdem hat Lara hier das Sagen. Sie hat ihn davon überzeugt, dass er sich mit einer achtzehnjährigen Monique nur Probleme einhandeln würde.
„Stell dir vor, du hast einmal mit ihr geschlafen, und dann wirst du sie nie wieder los. Sie ist immer da, heult in der Küche rum oder hämmert an deine Tür, wenn du ein Date hast. Außerdem, wer heißt schon Monique! Nur Barbies oder Pornostars.“
Gegen „Annika“ hat sie glücklicherweise nichts, obwohl mir Mamas Hang zu Kinderbüchern fast genauso peinlich ist wie ihre Affinität zum Theater.
„Nein, Annika ist eine Kinderbuchfigur, das ist total niedlich“, hat Lara großzügig entschieden, und damit war alles geklärt. Auch sonst stimmt es zwischen uns, Lara kocht nicht gerne, dafür putzt sie und dekoriert die ganze Wohnung mit Postkarten und Lichterketten. Ich wiederum habe kein Händchen fürs „Interieur“, wie Lara es nennt, dafür kaufe ich regelmäßig ein und wasche die Wäsche der ganzen WG.
Basti tut eigentlich nichts, außer ab und zu irgendwelche Kumpels anzuschleppen und das Klopapier zu verbrauchen. Er stört uns trotzdem nicht, weil er seine Miete pünktlich zahlt und keinen Stress macht, wenn was kaputt geht. Das ist wichtig, denn leider ist Lara nicht gut für technische Geräte. Sie werden irgendwie zu heiß und explodieren dann (siehe Wasserkocher, Föhn oder Playstation). Wenn ich es recht bedenke, ist es mit den Männern eigentlich genauso. Bloß, dass man die nicht reparieren kann. Außer in der Psychiatrie, aber das ist dann nicht mehr unser Problem.
Lara ist eigentlich eine Romantikerin und würde für den Mann, der sie richtig behandelt, wirklich alles tun, nur stellt sich früher oder später heraus, dass „richtig“ eine Definitionssache ist und die meisten Männer Schwierigkeiten beim Definieren haben. Meistens früher.
Der charmante, skurrile Debütroman von Mara Winter jetzt mit neuem Cover: