Leseprobe von „Das geheime Kapitel“ zum Download

marawinter Literaturbetrieb, Mara

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Leseprobe:

Es war der erste warme Tag nach einem langen, ungewöhnlich trüben Winter. Ich saß mit meiner Freundin Lotti auf der Terrasse vom ›Blauen Hund‹, wir tranken Kaffee und genossen die herrliche Frühlingssonne. Zwei Tische weiter saß Udo Schreiber vom Bauamt, der völlig fasziniert sein Gegenüber anstarrte. So beeindruckt, dass er weder uns bemerkte noch die pralle Sonne, die seine beginnende Glatze bedenklich rot färbte. Die schwarzhaarige junge Frau an seinem Tisch flirtete offen mit ihm und er schien sein Glück kaum fassen zu können. Schon damals fragte ich mich für einen kurzen Moment, um wen es sich bei der Frau handelte, und was sie hier bei uns in Kirchsendelbach verloren hatte.

Doch dann konzentrierte ich mich darauf, meiner Freundin Lotti beim Jammern zuzuhören.

»Es ist nicht so, dass ich Bernhard nicht mehr liebe«, erklärte sie und ließ Zucker in die Tasse rieseln. »Ich verabscheue ihn nur so sehr, dass ich die Liebe nicht mehr spüre.«

»Was nervt dich denn so an ihm?«, fragte ich.

»Die Art, wie er mich anschaut, wenn er mich etwas fragt. Wie er mich im Jammerton zu sich ruft, wenn er nach Hause kommt und ich nicht gleich alles stehen und liegen lasse und zu ihm eile«, zählte sie hastig auf. »Die Art, wie er sein Essen dreißigmal kaut oder wie er das Wort ›Serviette‹ falsch ausspricht. Seine Bartstoppeln, seine Zehennägel … na gut, vielleicht liebe ich ihn doch nicht mehr.«

»Das ist traurig«, sagte ich. »Ihr seid keine zehn Jahre verheiratet.«

»Und haben noch mindestens zehn vor uns«, ergänzte sie deprimiert.

»Wieso nur zehn? Bernhard ist erst Anfang vierzig?« Lotti sah mit ihren vierunddreißig fast noch wie ein junges Mädchen aus.

»In zehn Jahren sind die Kinder mit der Schule fertig, dann hält mich hier nichts mehr«, sagte Lotti trotzig wie ein Kleinkind.

»Du meinst nicht etwa, dass du dich scheiden lassen willst?«, fragte ich. Hier auf dem Dorf war die Welt noch in Ordnung und wenn nicht, dann täuschten wir es zumindest erfolgreich vor. Lotti zuckte mit den Schultern.

»Scheidung oder nicht, das ist mir egal. Wenn die Kinder aus dem Haus sind, dann ziehe ich in irgendeine Großstadt, wo mich keiner kennt. Wo es niemanden schert, welches Kleid ich an Maria Himmelfahrt trage und wo keiner an meiner Tür Sturm klingelt, wenn ich einmal nicht zum Gottesdienst erscheine.«

»Wir haben uns Sorgen gemacht«, sagte ich gekränkt.

»Ich meine nicht dich und Carla! Ich meine die entsetzlichen alten Hexen, das weißt du genau!«

Ich seufzte.

Wie Lotti war ich nie aus dem Ort unserer Kindheit herausgekommen, aber im Gegensatz zu ihr hatte ich mir das nie gewünscht. Großstädte machten mich nervös, ich hasste die seltenen Tagesausflüge nach Nürnberg, wenn mein Mann Johann zu einem Spezialgeschäft wollte.

»Natürlich ist Bernhard ein guter Vater«, setzte Lotti nach, als würde das jede bösartige Bemerkung neutralisieren.

»Ich weiß.«

»Du lästerst nie über deinen Mann«, sagte sie vorwurfsvoll, als ich um die Rechnung bat.

»Da gibt es nichts zu lästern. Johann und ich kommen gut klar.«

Lotti war nicht die Einzige, die sich darüber beschwerte, dass ich in den Klatschkessel von Kirchsendelbach nichts einzahlte. Doch ich nahm mir auch nie freiwillig etwas heraus. Warum die Frauen im Dorf ausgerechnet mir ihre Geheimnisse anvertrauten, hatte ich nie verstanden. Gut, mit Lotti und der Wirtin Carla war ich in einer Klasse gewesen, die alte Vertrautheit rechtfertigte offenbar meine Rolle als Kummerkasten. Mir wäre es lieber gewesen, wenn sie mich mit ihren großen und kleinen Problemen verschont hätten. Den alten Klatschbasen Henriette, Marlies und Kuni ging ich seit Omis Tod erfolgreich aus dem Weg und was mir sonst erzählt wurde, ließ ich zum einen Ohr hinein und zum anderen hinaus.

»Ich muss dann mal los, sonst wird es mit dem Mittagessen knapp«, sagte ich und stand auf.

»Na gut!« Lotti zog einen Flunsch und griff nach ihrer Handtasche. »Wir sehen uns dann morgen in der Kirche!« Auf ihren filigranen Sandalen stolzierte sie davon und ich sah flüchtig zu Udos Tisch, aber er und seine Begleitung waren bereits fort.

 „Das geheime Kapitel“ erscheint am 8. Juli im Pinguletta-Verlag.

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