Leseprobe aus „Das Leben braucht mehr Schokoguss“

marawinter Literaturbetrieb

Am 1. Februar 2021 erscheint mein neuer Roman unter dem Pseudonym „Ella Lindberg“ als Taschenbuch bei Droemer Knaur.

Kapitel 1
Ich bin nicht nervös. Ich habe auch keine Angst, ich fliege einfach nur sehr ungern. Es ist mir ein klein wenig unheimlich, wie ein so großes schweres Ding sich in die Luft erheben kann. Natürlich sage ich das keinem, das wäre ja albern. Ich meine, ich hatte Physikunterricht in der Schule, und da wurde uns ganz genau erklärt, wie das funktioniert, mit Kräfteausgleich und so weiter. Es ist nur so, dass ich es jedes Mal nicht wirklich glauben kann, bevor wir abheben.
Als es so weit ist, hole ich tief Luft und vermeide dabei den Blick aus dem Fenster. So ähnlich fühlt sich ja auch Aufzug fahren an und dabei wird mir schließlich auch kein bisschen mulmig.
„Flugangst?“, fragt die ältere Frau neben mir und sieht mich eher spöttisch als mitfühlend an. Oh nein, die hat vorhin schon bei der Sicherheitskontrolle ewig gebraucht und die Stewardess vollgetextet. Ich hatte gehofft, sie wäre schon eingedöst.
„Nein, gar nicht“, sage ich und klammere mich an der Armlehne fest. Hoffentlich will sie kein längeres Gespräch mit mir anfangen. Dazu habe ich jetzt echt keine Nerven. Meine Sitznachbarin wirkt in ihrem wallenden bunten Kleid wie ein sehr in die Jahre gekommenes Blumenkind. Sie hat eine riesige altmodische Handtasche auf dem Schoß, in der sie unermüdlich herumkramt. Die Tasche gleicht mit dem braun-lila Blumenmuster einem alten Wandteppich, und ein bisschen riecht sie auch so.
„Muss Ihnen nicht peinlich sein, Kindchen.“ Jetzt hat sie offenbar endlich das gefunden, was sie gesucht hat, denn sie quetscht ihr muffiges Behältnis in den schmalen Platz zwischen ihren Beinen.
„Es hat nichts mit dem Flug zu tun. Ich fange morgen einen neuen Job an und deshalb bin ich aufgeregt“, erkläre ich und frage mich, warum. Das mit dem Job stimmt sogar, auch wenn mir das Flugzeug unheimlicher ist, als ich zugeben will.
„Soso“, murmelt sie nur und zieht dann eine Stricknadel aus ihrem Dutt. Zu meiner Verwunderung klemmt sie die Nadel zwischen ihre Zähne und schüttelt den Kopf, sodass ihre langen grauen Haare um ihr Gesicht herumfliegen – und in meines. Ich versuche, von ihr abzurücken, aber die Sitze sind zu schmal. Dann rollt sie ihr Haar zu einer Schnecke zusammen und steckt es wieder mit der Stricknadel am Hinterkopf fest.
„Die ist aus Plastik“, erklärt sie, „die piepst nicht bei der Sicherheitskontrolle. Dabei ist die auch ganz schön scharf. Könnte man gut als Waffe verwenden.“
Ich beschließe, ihre Bemerkung einfach zu überhören, und hole mein Buch aus dem Rucksack. Jetzt ist das Startmanöver abgeschlossen und ich bin einigermaßen ruhig. Start und Landung sind die beiden kritischsten Punkte, somit habe ich praktisch die Hälfte der Gefahr schon hinter mir, rede ich mir innerlich gut zu. Außerdem muss ich langsam anfangen mich zu entspannen, sonst sagt Annette später wieder was über die Falte über meiner Nase. Obwohl meine Schwester meistens kühl und distanziert ist, freue ich mich darauf, sie wiederzusehen. Und trotz der Nervosität freue mich auch auf meinen neuen Job. In der malerischen Schweiz zwischen Bergen und Wiesen in einer wunderschönen alten Schokoladenmanufaktur arbeiten zu dürfen, kann eigentlich nur traumhaft werden. Mein Schwager hat mir diesen Job an seinem Arbeitsplatz besorgt und ich kann noch immer kaum glauben, wie idyllisch die Bilder auf dem Faltprospekt sind. Die Broschüre scheint schon ein paar Jahre alt zu sein, aber Berge und Wiesen neigen ja nicht dazu, sich plötzlich aufzulösen, also ist es bestimmt wundervoll dort. Und es gibt Schokolade in Hülle und Fülle. Ich meine, muss ich noch mehr sagen? Mir ist schon klar, dass ich nicht in Willy Wonkas Schokoladenfabrik arbeiten werde, aber anders als zauberhaft kann ich mir dieses Praktikum einfach nicht vorstellen. Es kommt nur ein wenig zum falschen Zeitpunkt. Natürlich bin ich dankbar für diese Chance und ich brauche auch wirklich das Arbeitszeugnis, aber gerade jetzt, nachdem Johnny und ich uns wiedergefunden haben, fällt es mir verdammt schwer, Hamburg zu verlassen.
Es ist eine lange komplizierte Geschichte, wie aus unserer Teenagerliebe erst ein Kontaktabbruch, dann Waffenstillstand, eine zaghafte Freundschaft und schließlich wieder Liebe geworden ist. Aber so ist das eben im echten Leben, da verläuft nicht alles nach Plan, und man wird immer wieder vom Schicksal überrascht. Jedenfalls haben sich in diesem Frühjahr all unsere früheren Probleme aufgelöst und Johnny hat so ernsthaft und geduldig um mich geworben, dass ich irgendwann alle Bedenken fallengelassen und mich noch einmal neu auf ihn eingelassen habe.
Unser zweiter Anlauf ist noch sehr frisch und so richtig offiziell ist Johnny auch noch nicht frei. Er und seine Ex-Freundin Tina haben sich zwar bereits während ihres Auslandssemesters telefonisch getrennt, aber Johnny ist es wichtig, noch einmal persönlich mit ihr zu sprechen. Das verstehe ich vollkommen, eigentlich finde ich das sogar sehr anständig. Es ist nur ein wenig unglücklich, dass Tina ausgerechnet heute zurückkommen muss, wo ich in die Schweiz fliege, und ich Johnny nach ihrer Aussprache nicht gleich treffen kann. Er wird mich natürlich anrufen und mir alles erzählen, das hat er mir versprochen, und ich habe ihm versichert, dass ich die Ruhe in Person bin. Ich bin vollkommen entspannt, so entspannt wie man nur sein kann.
Plötzlich ruckelt das Flugzeug, unerwartet und heftig. Ich schreie auf und packe meine Sitznachbarin am Arm. Peinlich berührt lasse ich sie los und entschuldige mich. „Tut mir echt leid, das war ein Reflex!“
Ich zupfe an meinem Pulloverärmel. Es ist mein teuerster, bester Wollpulli und er passt perfekt zu meinem grauen Rock und der schwarzen Strumpfhose, die ich trage. Wenn ich zu meiner Schwester fliege, ist nämlich nichts mit Schlabberklamotten beim Fliegen. Sobald ich ankomme, beginnt ein durchgetaktetes Programm, bei dem man vorzeigbar aussehen muss.
„Schon gut, Kindchen, das sind ganz normale Turbulenzen. So schnell stürzt ein Flugzeug nicht ab.“
Dankbar für ihr Verständnis nicke ich meiner Sitznachbarin zu und verstaue dann mein Buch im Gepäcknetz vor mir. Offenbar läuft es doch auf eine Unterhaltung hinaus, aber vielleicht habe ich ihr ja auch Unrecht getan und sie ist richtig nett. Da ich keine Oma habe, sollte ich mich eigentlich über ein Gespräch mit einer älteren Dame freuen.
„Obwohl man natürlich nie genau weiß … es kann auch ganz schnell gehen und muss gar nicht besonders dramatisch verlaufen“, fährt sie fort.
Das beruhigt mich jetzt weniger.
„Wie meinen Sie das?“
„Es gibt alle möglichen Gründe, warum ein Flugzeug abstürzen kann. Nicht nur, dass der Pilot die Kontrolle verliert.“
Langsam macht sie mir wirklich Angst.
„Nicht immer hat man noch die Möglichkeit, den Angehörigen eine Nachricht zu senden. Aber das macht nichts. Ich hatte ein gutes Leben. Wenn es jetzt vorbei wäre, wäre das okay für mich.“
Wie bitte?
„Aber für mich nicht“, widerspreche ich. „Ich bin erst sechsundzwanzig. Ich bin frisch verliebt. Mein Leben fängt doch gerade erst an!“
„Ja, in Ihrem Alter, da hält man die Liebe noch für das Wichtigste.“
„Aber die Liebe ist doch auch das Wichtigste!“ Ich klinge wie ein Anwalt bei seinem Schlussplädoyer.
„Sie waren bestimmt noch nie verheiratet, oder?“
„Nein“, sage ich, etwas leiser.
„Ich war dreimal verheiratet, zweimal verwitwet, einmal geschieden“, sagt sie zufrieden und öffnet eine große Bonbondose. „Auch eins?“
Der Geruch von Salbei, Lavendel oder irgendetwas eklig Kräuterigem schwappt zu mir herüber und ich lehne dankend ab und überlege, wie ich dieses Gespräch wieder beenden kann. Dies hier ist echt nicht die Oma, die ich nie gehabt habe … Dann hole ich meine Bewerbungsmappe aus dem Rucksack, ziehe vorsichtig den Faltprospekt der Zuckermann-Manufaktur aus der Klarsichthülle und schaue mir zum vermutlich hundertsten Mal meine zukünftigen Arbeitsgeber an.
Sie wirken sehr vertraut, wie sie da auf dem Gruppenbild sitzen: einander zugewandt, liebevoll. In der Mitte sitzt Elisabeth Zuckermann, die Chefin, und um sie herum junge gutaussehende Menschen in schicken Klamotten. Ein bisschen wie die Familienbilder von der Queen, die dann ausgiebig in den Klatschzeitschriften analysiert werden. Der junge Mann rechts neben Elisabeth hat die Hand leicht auf ihrer Schulter und lächelt sie halb an. Das ist laut Bildunterschrift Fabian Zuckermann, wahrscheinlich ihr Enkel, und man sieht sofort, dass sie ihm enorm wichtig ist. Die Frau neben ihm (laut Bildunterschrift Kirsten Zuckermann-Brenner) hält dagegen einen größeren Abstand zu ihm und obwohl sie lächelt, wirkt sie beim genaueren Hinsehen fast so, als ob sie der Gruppe gerne entfliehen würde. Das ist mir ein Rätsel, denn schließlich ist es ihre Familie. Wenn ich eine richtige Familie hätte, würde ich mich darum reißen, neben meiner Oma auf dem Sofa zu sitzen und ihre Wärme und den Zusammenhalt empfinden zu können. Aber vielleicht ist es auch nur ihre Schwiegerfamilie und ihre Ehe mit Fabian ist längst am Ende, wegen unüberbrückbarer Differenzen. Sie ist ein Fan von Traube Nuss, er schwört auf Marzipan.
Mit einem Grinsen im Gesicht schaue ich mir die beiden gegensätzlichen Einzelporträts auf dem Feld mit der Aufschrift Kontakt an. Ein sympathisch lächelnder Urs Schröter und ein steifes Porträt von Fabian Zuckermann. Er schaut streng und fast hochmütig in die Kamera, ganz anders als auf dem Gruppenbild.
„Ist er das?“, fragt meine Nachbarin und zeigt auf das Porträtfoto auf dem Faltblatt.
„Nein! Das ist mein zukünftiger Chef.“ Als ob ich mich für so einen Schnösel interessieren könnte. Gegelte Haare, steifer Hemdkragen, perfekte Krawatte. Das Schlimmste aber ist der Lebenslauf: Fabian Zuckermann, 29, Juniorchef, Abschluss School of Management in Rotterdam, Abiturnote 0,9 am Elite-Internat Rosenberg, erste Klasse übersprungen an der Grundschule in Schnöselhausen und so weiter.
„Wollen Sie meinen Freund sehen? Das ist er!“ Stolz reiche ich ihr mein Handy, auf dem ihr Johnny und ich eng umschlungen entgegenstrahlen.
„Der? Das ist ein Hallodri!“, behauptet sie. Hallo!? Habe ich sie etwa nach ihrer Meinung gefragt?
„Woher wollen Sie das denn wissen?“, frage ich gekränkt.
„Lebenserfahrung“, sagt sie knapp. „Den Typus kenne ich: immer lächelnd, immer charmant, nie um einen Spruch verlegen, aber chronisch untreu und will sich nie festlegen. Herzlichen Glückwunsch, mit dem werden Sie noch viel Spaß haben!“ Zufrieden über ihr Urteil stopft sie sich noch ein Bonbon in den Mund.
„Sie irren sich!“, sage ich irritiert. „Wir sind seit zehn Jahren glücklich verliebt! Auf diesem Bild waren wir sechzehn und siebzehn!“ Ich liebe dieses Foto, das uns beim gemeinsamen Fernsehen zeigt, denn Becky hat es an dem Abend geschossen, an dem wir uns zum ersten Mal geküsst haben, kurz davor. Daher ist mein Lipgloss noch drauf, meine Haare liegen richtig und außerdem sehe ich nicht nur glücklich, sondern auch richtig hübsch aus. Was ein echter Glückstreffer ist, denn ich bin leider nicht besonders fotogen. Auf zehn Bilder von mir kommt höchstens eins, auf dem ich mir gefalle, oder sagen wir, das ich nicht furchtbar finde. Aber dieses eine ist perfekt. Dass unsere Beziehung damals nicht lange gehalten hat, habe ich längst verwunden, wir waren eben noch unglaublich jung. Das einzig Wichtige ist, dass wir uns wiedergefunden haben und dass diesmal alles anders ist.
„Vor zehn Jahren? Wieso nennen Sie sich dann frisch verliebt?“, hakt die Alte nach. Mist, der entgeht auch nichts.
„Wir hatten eine, na ja, kleine kreative Pause, um uns zu orientieren. Um herauszufinden, was wir im Leben wirklich wollen.“ Die hatten Kate und William schließlich auch und ihre Ehe läuft super.
„Lassen Sie mich raten: Sie haben herausgefunden, dass Sie auch noch nach Monaten sehnsüchtig auf seinen Anruf warten und er hat herausgefunden, dass Sex auch mit anderen Frauen Spaß macht?“ Ist meine Sitznachbarin etwa eine Hexe, die glücklichen jungen Menschen das Leben zerstören will?
„So war das gar nicht“, murmele ich. „Ich habe auch experimentiert!“ Ich kann leider nicht leugnen, dass ich ihm damals länger hinterhergetrauert habe als er mir, aber da war er eben noch ein hormongesteuerter Teenager und ich übertrieben romantisch. Wir waren zu jung für eine echte Bindung.
Leicht verunsichert stecke ich den Prospekt wieder in die Hülle der linken Innenseite, ziehe meinen Lebenslauf heraus und versuche, mich darauf zu konzentrieren. Sieht soweit alles gut aus. Abitur in Hamburg, mit normalen Noten, die mir jetzt und verglichen mit Mr. Juniorchef allerdings etwas mickrig erscheinen. Ein Jahr kreative Auszeit, wie Becky es formuliert hat, dann Start des Marketingstudiums in Hamburg und seitdem ordentliche Studentin, die voraussichtlich im kommenden Jahr ihren Master machen ablegen wird. Wie wenig ich momentan davon überzeugt bin, das auch zu schaffen, steht natürlich nicht drin, aber zumindest auf dem Papier läuft alles geordnet und nach Plan ab.
„Aufgrund mittelschwerer Turbulenzen können wir unseren Getränkeservice leider nicht durchführen“, flötet die Stewardess durch den Lautsprecher. Ich lasse meine Unterlagen los und halte mich an der Lehne meines Vordermanns fest. Mittelschwer ist gut, wir werden tatsächlich ordentlich hin und her geschaukelt, und ein wenig neidisch sehe ich zu meiner Sitznachbarin, die inzwischen wieder seelenruhig mit ihrer Stricknadel hantiert. Meine Fingerknöchel verlieren dagegen mit jedem Ruckeln des Flugzeugs ein wenig mehr an Farbe.
Als wir in ein ordentliches Luftloch plumpsen, fängt meine Sitznachbarin plötzlich zu schreien an und krallt sich mit beiden Händen an meinem Ellbogen fest.
„Hilfe! Wir stürzen ab!“, kreischt sie. Die anderen Passagiere schauen uns skeptisch und ein wenig amüsiert an und ich schäme mich ein bisschen, weil außer ihr und mir offensichtlich keiner in Panik gerät. Dann kommt die Stewardess vorbei und behauptet, dass der Pilot alles unter Kontrolle habe und uns keine Gefahr drohe.
„Na gut“, keucht die Frau, „auf Ihre Verantwortung!“
Als sie mich wieder aus ihren Krallen entlässt, prangt ein münzgroßes Loch im Ärmel. Shit, shit, shit! Ich hab keine Wechselklamotten im Handgepäck und ich werde sofort nach der Landung mit meinem Schwager und meiner Schwester in ein schrecklich vornehmes Restaurant gehen, in dem sie mich meinem zukünftigen Chef vorstellen wollen. Ich möchte die Oma erwürgen. Sie hat Glück, dass ich ein freundlicher und mitfühlender Mensch bin.
„Geht´s wieder?“, frage ich. Sie nickt und wischt sich die Stirn mit einem unförmigen Papier ab.
„Ich hänge wohl doch mehr am Leben, als ich dachte“, erklärt sie. Ich nicke ihr aufmunternd zu, bis ich bemerke, was sie da gerade nervös in ihrer Hand zerknüllt. Ja, ist sie denn wahnsinnig?
„Hey, das sind meine Bewerbungsunterlagen!“, schreie ich. „Haben Sie denn kein Taschentuch?“
„Das lag am Boden vor meinem Sitz, kann man ja nicht ahnen, dass Sie das noch brauchen!“, sagt sie beleidigt. Na gut, dagegen kann ich schlecht was sagen, dann drucke ich mir das alles eben bei Annette noch mal aus. Aber das Loch in meinem Ärmel ist echt ein Problem.
„Haben Sie in Ihrer großen Tasche zufälligerweise auch so etwas wie ein Nähset?“, frage ich hoffnungsvoll.
„Nähset? Keine Chance, Kindchen. Einmal hatte ich eine Baby-Nagelschere dabei, mit abgerundeten Ecken, aber die haben sie mir bei der Sicherheitskontrolle abgenommen. Nadeln sind Waffen, die sind absolut verboten.“
„Ach so.“ Was soll ich jetzt nur machen? So kann ich mich doch nicht vor Stefans Chef sehen lassen.
„Was wollen Sie denn nähen?“ Wortlos zeige ich auf das Loch in meinem Ärmel.
„Ach, da habe ich was Besseres, warten Sie mal!“ Sie hebt erneut das Teppichmonster auf ihren Schoß und kramt eine Weile darin herum. Schließlich fördert sie triumphierend einen schwarzen Filzstift zutage.
„Ähm, wofür soll der sein?“
„Geben Sie mal Ihren Arm her!“, fordert sie und ehe ich mich versehe, hat sie meinen Arm erneut gepackt und angefangen, durch das Loch einen Kreis auf meine Haut zu malen.
„He, Moment, was wird das denn?“, frage ich, aber es ist eh zu spät. Sie krempelt meinen Ärmel hoch und vergrößert den Kreis ordentlich, dann füllt sie ihn vollständig aus.
„So, jetzt ziehen Sie den Ärmel mal drüber!“, verlangt sie.
Okay, jetzt verstehe ich. Eigentlich gar nicht blöd. Wenn man nicht genau guckt, ist das Loch tatsächlich unsichtbar. Allerdings … „Wie lange hält denn die Farbe?“
„Moment, ich glaube aber, Sie können beruhigt sein, der hält …“ Sie kramt ihre Brille hervor und studiert die Schrift auf dem Filzstift. „Mindestens sieben bis zehn Tage“, verkündet sie strahlend.
„Und was mache ich, wenn ich den Pulli ausziehen will?“
„Dazu kann Sie schließlich niemand zwingen“, erwidert sie ungerührt und steckt ihr Malwerkzeug wieder ein. „Sagen Sie halt, dass Ihnen kalt ist. Oder dass Sie schamhaft sind, was weiß ich.“
„Hm.“ Mehr fällt mir dazu nicht ein.
„Haben Sie nicht was vergessen?“, fragt sie.
„Was denn?“ Habe ich etwa noch ein Loch irgendwo? Bitte nicht.
„Sie haben sich nicht bedankt.“
Echt jetzt? Soll ich mich dafür bedanken, dass eine Irre erst meinen Lebenslauf zerknüllt, meinen Lieblingspulli ruiniert und mich dann dazu zwingt, diesen den ganzen Abend anzubehalten? Und das auch noch, fällt mir siedend heiß ein, wo wir in ein Restaurant gehen, bei dem die Speisen direkt am Tisch zubereitet werden. Oh nein. Das letzte Mal habe ich im Chez Louis so geschwitzt, dass ich mir geschworen hatte, da nie mehr hinzugehen. Aber da Stefans Chef extra dorthin eingeladen hat, kann ich mich schlecht weigern. Und nun also gefangen am Grill im Wollpulli und das im September, na, besten Dank!
„Und?“, fragt die alte Frau lauernd. Sie wird mich wohl nicht in Ruhe lassen, bevor ich mich bedankt habe.
„Also gut, danke“, presse ich heraus, während ich mir vorstelle, wie ich ihr die Bonbons einzeln ins Gesicht schmeiße.
„Na also, geht doch. Warum nicht gleich so?“, murmelt sie und kramt erneut in ihrer Tasche. Ich schließe die Augen. Meine Reise in die Schweiz fängt ja fantastisch an.

 

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