Leseprobe: Verblüht

marawinter Literaturbetrieb, Sonstiges Leave a Comment

Der Pfarrer beim Schuleingangsgottesdienst hält einen Radiergummi in die Luft.

„Dieser Radiergummi soll euch daran erinnern, dass man auch Fehler machen darf, denn sie können jederzeit ausradiert werden.“

Aber es gibt Fehler, die mit so schwarzer Tinte geschrieben werden, dass kein Tintenkiller sie mehr weglöschen kann. Die eher das Papier zerfressen, als sich ausradieren zu lassen.

Samuel ist aufgeregt und klammert sich an Svens Bein. Er ist stolz, endlich auch zu den Großen zu gehören. Der große Bruder trägt ihm den Schulranzen und Viola hält die schwere Schultüte. Nach dem Glockenläuten lassen sie sich lachend vor der Kirche fotografieren. Mit Gerd in der Mitte sehen sie wie eine glückliche, heile Familie aus. Sie haben keine Ahnung, dass ich ihre Mutter auf dem Gewissen habe.

Meine Schwester hat immer mehr bekommen als ich. Ich war hübsch, aber sie war schön. Ich war klug, aber sie bekam die besseren Noten. Ich lernte wie verrückt, aber sie lächelte einmal und bekam dann meine Eins.

Unser Deutschlehrer war leider extrem kurzsichtig. Sonst verwechselte uns nämlich niemand. Obwohl wir im gleichen Monat Geburtstag hatten, waren wir offensichtlich keine eineiigen Zwillinge. Beatrices Gesicht war so ebenmäßig geformt, dass ich mir neben ihr wie eine verwaschene Kopie vorkam.

 

Weiterlesen:

dest-final

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.