Allerheiligen

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An Allerheiligen war die Klinik in dicken Nebel gehüllt. Wir Psychosomaten saßen im Aufenthaltsraum, tranken Tee mit Zimtaroma und langweilten uns. Die Zeitschriften waren ausgelesen, alle Geschichten erzählt und diese Woche hatten sie keine einzige Essgestörte in die Notaufnahme gebracht. Wir wünschten uns natürlich nicht direkt einen Selbstmord, aber ein bisschen Drama hätten wir ganz gut vertragen können.

»Ich wette, bis Ende November haben wir noch mindestens zwei Abgänge«, raunte Lisa mir zu.

Als Abgang wurden die Patienten bezeichnet, die einfach plötzlich nicht mehr da waren, ohne offiziell verabschiedet worden zu sein. Sie hatten randaliert, sich die Pulsadern aufgeschnitten oder waren über die Brüstung geklettert, woraufhin sie stillschweigend in die Pathologie oder die geschlossene Abteilung verfrachtet wurden. Aus Gründen der Bosheit oder des Datenschutzes bekamen wir keine weiteren Informationen, aber es wurde natürlich ausführlich getuschelt und spekuliert.

Als der Nebel aufbrach und der Himmel sich bedrohlich färbte, machte sich eine seltsame Stimmung breit. Wir saßen wie in einer Glasglocke und starrten auf die weite Landschaft, die von lilagrauen Wolken überstrahlt wurde. Natürlich glaube ich nicht an Geister oder böse Vorzeichen, aber irgendetwas lag in der Luft.

»In einem Film würde heute Nacht der Massenmörder hier einbrechen«, scherzte ich, aber niemand lachte.

»Wir sind aber in keinem Film, wir sind nur in einer Scheißklinik für Gestörte«, fluchte Martin, »du hast einfach zu viel Phantasie!«

 

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